Schatten im Zwielicht - Zwischen Auftrag eins und zwei - II

"So lang bist du doch jetzt auch noch nicht von Zuhause weg, dass man dir das Haus unterm Arsch wegreißt?", hakte Rena stirnrunzelnd nach und war zeitgleich froh, dass sie vor diesem Problem nicht stand. Sie hatte ja noch nicht einmal ein Haus, das man ihr wegnehmen könnte - nur ein Zimmer in Havena, das ihr gehörte. Schaudernd schüttelte sie den Kopf. "Als ob die nicht wüssten, dass du noch lebst. Wir machen echt genug von uns reden!"

"Du vergisst, wie weit ab von allem Thorwal liegt und dass sie meistens unter sich bleiben. Ich wurde scheinbar erneut für tot gehalten - von mehreren. Wir haben wenig fruchtbares Land und das, was zur Verfügung steht, brach liegen zu lassen, ist eigentlich schon fast ein Verbrechen. Jetzt wird es weiter bestellt und genutzt werden und dient der Allgemeinheit. Es gab aber ein paar Dinge, die ich mitnehmen musste und ein paar andere, die in sichere Verwahrung gehörten." Sie hob den Beutel kurz an. "Würdest du das für mich aufbewahren und bei deinem nächsten Besuch nach Havena bringen?" Ihr Blick wurde ernst, als sie Renas Augen suchte. "Wenn mir etwas zustößt, stell sicher, dass Tjark und die Kinder entweder sicher nach Hause kommen - oder tot sind. Und sollte ersteres eintreffen, dann gib ihm all das bitte zurück. Ansonsten behalte es." Sie sah hinunter zu der Hand an Renas Seite und ihre nächsten Worte waren nur, um die vorhergehenden ein wenig abzumildern. "Und du klaust nichts davon, hast du gehört?"

Rena nickte langsam und streckte die Hand nach dem Beutel aus, den Svea ihr entgegen hielt. Sie dachte nicht eine einzige Sekunde lang darüber nach auch nur einen einzigen kurzen Blick in den Beutel hinein zu werfen, der dort zwischen ihnen beiden hing, stattdessen nickte sie nur erneut knapp, weil sie wusste, was es für die andere bedeutete. "Ich bringe die Sachen gemeinsam mit meinen neuen Errungenschaften nach Havena und lagere sie dort", versprach sie Svea, auch weil sie ihr nicht versprechen konnte, dass sie all das hier überleben würden. Sie wusste es nicht - wusste nur, dass sie um jeden Preis selbst am Leben bleiben wollte, nicht bereit war ihr eigenes Leben zu opfern, weil es das Einzige war, was sie nicht verlieren durfte. Leonore war sicher, hatte eine gute Familie und Menschen, die sie in Havena liebten und ihr immer beistehen würden - Alrik war von Reichsend dorthin versetzt worden, um bei ihrer beider Tochter sein zu können. Sie waren dort sicher.
"Wir finden Tjark und die Kinder und wir holen sie zurück."

Diesmal antwortete Svea nicht - jedenfalls nicht auf die Worte, die ihr gesagt worden waren. "Das hier" sie fischte in ihrer Kleidung herum und zog eine schmale Kette mit einem Medaillon hervor "ist für Leonore. Gib es ihr bei deinem nächsten Besuch und ... sorg vielleicht dafür, dass sie es nicht öffnet, bis sie ein Geheimnis für sich behalten kann, was noch ein wenig dauern wird."

Rena blinzelte für einen kurzen Moment auf das kleine Medaillon hinab, das sich jetzt in ihren Fingern befand und strich sacht mit den Fingern der Rechten darüber, die kleinen Unebenheiten unter ihren Fingerkuppen spürend und weich darüber lächelnd. Geheimnisse bewahren ... Für einen kurzen Moment lang dachte sie zurück an die Entscheidung, die sie damals nach Leonores Geburt getroffen hatte - dass sie selbst nicht die Segnung gesprochen hatte, weil sie ihrer Tochter die Wahl lassen wollte, was sie einmal sein wollte statt sie unweigerlich auf denselben Weg wie sich selbst bringen wollte. Ein paar Mal hatte sie darüber nachgedacht, ob es richtig war - hatte sich versucht vorzustellen, was ihre Tochter sein wollen würde. Ob sie Kriegerin werden würde oder sich für das Leben der Politik entscheiden würde. Vielleicht würde sie Händlerin werden oder als Abenteurerin durch die Lande ziehen, um die Wunder Aventuriens zu entdecken. Es war ihr gleichgültig, so lange ihr kleines Mädchen nur glücklich mit der Entscheidung sein würde.
"Danke", hauchte sie schließlich leise mit einem Kloß im Hals und setzte einen Schritt auf Svea zu, um die Ältere zu umarmen.

Es war eine ehrliche Umarmung und dieser Tage bekam man nicht mehr so viele davon - Svea genoss den Moment und versuchte, all die drückenden Gedanken zurück in den Limbus ihres eigenen Kopfes zu schieben. Wenn sie Thorwal nicht mehr sehen sollte, wollte Swafnir es eben so und sie hatte sich von ihrer Heimat verabschiedet, die Füße in Sand und Wellen. Dort draußen warteten noch Thorwaler auf ihre Hilfe und so oder so würden sie sie bekommen, während sie gegen Borbarad vorgingen. Aber sie verstand auch Rena nur zu gut, deren Glück so nah und dennoch genauso unerreichbar war. Leonore war immerhin noch da, in Sicherheit und noch dazu fernab von all den Geschehnissen, das gab Hoffnung, denn sie Aussichten, denen sie sich momentan gegenüber sahen, waren alles andere als rosig. "Du wirst bald wieder bei ihr sein." Das war etwas, was sie zusichern konnte. Kein 'Du wirst sie aufwachsen sehen', kein 'alles wird gut', sie mussten sich mit kleinen Schritten voranhangeln. Als Svea sich von der Jüngeren löste, fuhr sie sich mit dem Handballen über über den Augenwinkel. "Ach - tu mir den Gefallen, lass das inzwischen keinen Praioten in die Finger bekommen, ja?"

"Als ob ich irgendeinen Praioten in die Nähe meiner Tochter lassen würde, so lange sie nicht alt genug ist, um ihnen selbst den Hintern zu versohlen", lächelte Rena schief und hoffte darauf, dass Svea Recht haben würde. Dass sie ihr kleines Mädchen aufwachsen sehen würde, nachdem Borbarad endlich wieder verschwunden war und sie würde hier bleiben können, statt wieder zurück in ihre Zeit zu müssen. Insgeheim hatte sie jeden Abend aufs Neue für dieses eine einzige Glück gebetet - für die Chance, eine Familie haben zu können und eines Tages vielleicht doch als erster Sternschatten, den es gab, das Schwert in eine Halterung an der Wand hängen zu können und sich zur Ruhe setzen zu können. Fernab all des Trubels und sehr weit weg von neuen Kämpfen.

"Dachte ich mir fast." Svea schlang einen Arm um Renas Schulter und deutete auf die Akademie. "Soweit ich das gehört habe, haben wir bis morgen Zeit ... und ich brauche verdammt dringend irgendjemanden, der den heutigen Tag mit mir betrinkt. Trainieren kannst du heute ohnehin nicht mehr." Sie deutete mit einem Kopfrucken hinüber zu dem Parkour, der vor Menschen nun schwirrte, die Dinge zu ändern begannen. "Lass uns die anderen finden und dann den Alkoholvorrat suchen."

"Klingt gar nicht so verkehrt und wir haben einen ganzen Weinkeller für uns, den wir plündern können", stimmte sie Svea mit einem kurzen Nicken zu, den Blick nur kurz hinüber wandern zu lassen, zu dem, was die Magier gerade mit dem Übungsgelände veranstalteten, das Rena erneut hatte verbessern wollen. "Ich hätt übrigens gern mal wieder ein bisschen Mittelreich. Die Tulamidenlande, das Kalifat und Al'Anfa und dieser ganze Kram geht mir langsam auf die Nerven ..."

"Oh, bitte, bring mich nicht in Stimmung, hier einigen die Kehle durchzuschneiden", bat Svea. "All diese Sklaverei hier macht mich krank!"

"Nicht nur die - es ist zu warm, alle sind permanent damit beschäftigt, sich mit Rauschmitteln zuzudröhnen und räkeln sich auf irgendwelchen breiten Sofas und Sesseln. Jeder ist von sich selbst überzeugt, niemand hält etwas von körperlicher Ertüchtigung außer sie findet in irgendeinem Bett statt und jedem Händler muss ich tiefer in den Arsch kriechen als mir lieb ist", murrte sie augenrollend und schüttelte den Kopf. Das hier war nicht ihre Umgebung - sie brauchte ehrliche Worte, statt all des Süßholzgeraspels, das nur dafür sorgte, dass der Drang größer wurde, jemanden dafür zu verprügeln.

"Gut, dass du mich daran erinnert hast, wie viel Alkohl ich brauche ...", murmelte Svea diesmal leiser und rieb sich über die Stirn. Wenn man es so ausdrückte wie Rena eben, war es eine wirklich große Frage, wie sie es hier überhaupt aushielten und das nun schon mehrere Tage lang und beim besten Willen fand sie keine Antwort darauf. "Olena wird uns keine große Freude beim Trinken sein ... holen wir Ediona?"

"Die wollte doch keinen Alkohol mehr trinken seit der Boron-Wein-Geschichte."

"Raidri?"

"Der ist unterwegs. Ich hab ihn zu Rondriga und dem Rest seiner Kinder geschickt, um da seine Angelegenheiten zu klären, nachdem er sich jetzt dazu entschieden hat, Verantwortung zu übernehmen."

"Oh - hat er das?" Das waren überraschende aber keine schlechten Neuigkeiten.

"Calenleya hat mit ihm gesprochen und ihm mitgeteilt, dass er vor seiner Verantwortung davon läuft und das scheint irgendetwas in ihm bewirkt zu haben. Jetzt ist er fest entschlossen auch die Angelegenheit mit dem Erbe von Winhall zu klären. Er will es Rondriga überschreiben, falls ihm etwas passieren sollte."

"Ich kann das nur zu gut verstehen", gab Svea zurück. "Wenn man in einen Kampf zieht, bei dem die Chancen so stehen wie bei uns ... dann will man seine Sachen geklärt haben, um den Kopf frei zu haben."

"Ich auch, deshalb hab ich ihn ja auch los gejagt. Ich find es nicht schlecht, dass er jetzt erwachsen wird - hat lang genug bei ihm gedauert."

"Da braucht es erst so ein junges Ding wie dich", neckte Svea die andere und öffnete die Tür hinunter zum Weinkeller.

"Cuanu war der Meinung, wir lernen beide gegenseitig voneinander. Ich schätze, er hatte wohl mehr Recht als ich bislang geglaubt hatte."

"Cuanu ist ein kluger Mann", stellte Svea mit einem Lächeln fest. "Was hat er dir sonst noch auf den Weg mitgegeben?"

"Cuanu? Das kann ich dir nicht mehr alles in Worte fassen und das ist das Schlimmste ...", antwortete Rena und dachte einen kurzen Moment lang nach ehe sie mit einem versonnenen Lächeln zu reden begann. "Er war derjenige, der immer für mich Partei ergriffen hat und der mir gleichzeitig immer die größte Kritik gegeben hat. Er hat an mich geglaubt, was immer auch der Rest dieser Welt gedacht hat. Wann immer ich zu ihm gekommen bin, um Hilfe zu suchen - hab ich sie gefunden - er hat mich niemals weggeschickt, mich niemals lächerlich gemacht und mich nie glauben lassen, es wäre zu viel. Als ich ihm von Leonore erzählt habe, hat er in keiner Sekunde gezögert und sie bei sich aufgenommen, versprochen sich um sie zu kümmern, damit ich meinem Auftrag folgen konnte", fing sie an und erinnerte sich nur allzu gern an die Momente, in denen sie mit etwas zu trinken an einem Fenster gesessen hatte - den Blick hinaus nach Havena gewandt.
"Havena, die Freie ... Cuanu war es, der mir wirklich ein Zuhause gegeben hat und er war der erste Mensch, dem ich bereit war, zu schwören, sein Land und seine Familie bis aufs Blut zu verteidigen und zu schützen. Vor ihm habe ich gekniet, weil ich es wollte und weil er es verdient hat, nicht weil er eine Krone trägt. Deshalb musste ich Invher warnen."

"Manchmal ist Geheimhaltung nicht alles. Familie geht tiefer als all das und ohne Familie wäre unser Auftrag sinnlos. Wenn es keine Band gäbe, die es wert wären zu schützen oder Regeln zu brechen, dann bräuchten wir uns nicht gegen Borbarad aufmachen, sondern könnten ihn einfach machen lassen, während wir unserer eigenen Wege gingen." Für Svea brauchte es keine Erklärung dessen, was sie getan hatte. Natürlich gab es immer Leute, denen es stank, wie oder warum sie etwas taten, aber wenn sie es allen recht machen wollten, dann wäre längst keine Thorwalerin in dieser Gruppe und vermutlich auch keine Magierin, eine Phexgeweihte oder eine Peraine-Geweihte an Seite einer friedliebenden Elfe, die zusehen mussten, wie andere sich stetig in Gefahr begaben.

"Albernia ... die Familie Bennain - sie waren mir mehr eine Familie als es Alriks Familie jemals auch nur versucht hat. Ich hab Cuanu versprochen, seine Familie nicht anzulügen - keine Ausreden, keine versteckten Botschaften. Keine Beschönigungen. Er hat von mir die Wahrheit über Borbarad gehört und trotzdem ist er bereit zu kämpfen und das noch vor allen anderen Kirchen. Manchmal frage ich mich, was das über die Kirchen aussagt. Dass dieses Land aufsteht und uns zustimmt, nach den Waffen greifen will gegen einen Gegner, vor dem selbst wir Angst haben während die Götterdiener zaudern ..."