Thorwal, 1016

"Was dort draußen wirklich wartet und droht, weiß ich selbst noch nicht. Noch könnte man es vielleicht ignorieren und so tun, als wäre nichts, so wie all die hochdekorierten Schnösel es versuchen, wenn wir damit vor ihnen stehen. Aber muss immer erst etwas geschehen? Es ist ... ein dunkles Gefühl, das man nicht abschütteln kann. Eine Ahnung, dass Dinge in Gang gesetzt wurden, vielleicht sogar begünstigt durch uns, die wir aufhalten müssen, so aussichtslos es scheint, damit es nicht die Gegenden erreicht, die wir schützen wollen. Damit Thorwal weiter bestehen bleibt und du eben so sicher bist, wie du sein kannst, wenn du wieder ausfährst." Svea machte sich keine Illusionen - sie hatten beide ein gefährliches Leben gewählt, das sie oft auseinander riss, öfter, als jedem von ihnen lieb war. Gedankenverloren wanderten ihre Fingerspitzen über Tjarks Hals und seine Schlüsselbeine, während sie ihren Kopf auf die Hand aufstützte und auf ihren Mann hinunter sah. Jeder von ihnen war im Kämpfen unterwiesen und ausgebildet für den Weg, den sie beschritten und so kehrten sie am Ende der Reise nach Hause zurück, mehr oder minder am Leben, auch, wenn es manchmal knapp gewesen war. Nach einer Weile fiel ihr Blick auf die Armringe, die leise bei jeder Bewegung klimperten und einem Impuls folgend zog sie den silbernen, gedrehten mit den stilisierten Walflossen an beiden Enden von ihrem Handgelenk. Sie hatte ihn von ihren Eltern geschenkt bekommen - nach der Weihe - und niemals wieder abgelegt. Sacht bog sie den Halbreif etwas auf und schob ihn in Tjarks warme Hand. Es fühlte sich richtig an.
"Nimm du ihn. Wenn ich schon nicht bei dir sein kann, dann will ich wenigstens, dass unser Gott über dich wacht. Ich habe ihn in Olport vor drei Jahren segnen lassen."
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Tjark blinzelte und griff nach dem Kleinod, welches ihm Svea vor die Nase hielt. Seine Finger striffen über den fein gearbeiteten Reif, spürte die Musterungen und Maserungen. "Bei Swafnir..." flüsterte er leise und richtete sich ein Stück auf. "Svea, bist du dir sicher, dass du einen Schutz unseres Gottes einfach so abgeben willst?" er schüttelte ungläubig den Kopf. Er wollte bei allem was ihm heilig war nicht riskieren, dass Svea in Gefahr geriet. "Ach ich bin so dumm..." knurrte er, während er den Reif drehte. "Ich hab dir seit du hier bist nur Scherereien gemacht!"

"Ich gebe den Schutz nicht ab, ich teile ihn", gab sie zurück und schloss seine Finger sacht um den Gegenstand. "Und ja, du warst ein ziemlich dämlicher Aal - mir würden schlimmere Beschimpfungen einfallen, aber ich schätze, wenn ich damit anfange, vergeuden wir die Zeit nur weiter mit Streit und nichts liegt mir ferner. Also sieh zu, dass du auf die Füße kommst und dann lass uns los." Sie beugte sich nach vorne, küsste ihn rasch, aber innig und schob sich dann selbst aus dem Bett.

"Los?" Tjark sah seiner Frau nach, die bereits aufgesprungen war und sich bereits fertig zu machen schien. Noch immer schmeckte er ihren Kuss salzig und wild auf seinen Lippen, schüttelte dann aber den Kopf um diesen wieder klarer zu bekommen. Er tastete nach seiner Tunika, zog sich diese über - stellte ernüchtert fest, dass er sie verkehrt herum angezogen hatte und wechselte wieder. Mit einigem ziehen und zerren schlüpfte er zudem in seine Socken. "Wo bei Swafnir willst du denn hin? Es ist dustere Nacht," zumindest glaubte er das - ganz sicher war er sich nicht, schließlich waren die Vorhänge aus dickem Stoff.

"Rauf zu den Felsen?", erinnerte sie ihn an seinen eigenen Vorschlag. "Und sag mir nicht, dass ein bisschen Dunkelheit dich kirre macht. Hier haben wir doch ohnehin das halbe Jahr Düsterkeit."

"Düsterheit," berichtigte sie Tjark, der dies - seinem breiten Grinsen zu urteilen - viel zu gerne tat. "Aber gut, wenn das herumstolpern in der Dunkelheit und das Brechen des Halses beim Hinabfallen einer Klippe für dich nach romantik und nicht vor todesqualen schreit, dann bin ich dabei!" er hatte mittlerweile seine Stiefel angezogen und war zu einer Truhe getreten, die vor ihm stand und die knarrend und quietschend ihren Inhalt preisgab, welchen er schnell aufklaubte und in ein Tuch wickelte.

Svea war zu langsam, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, nachdem sie in ihre eigenen Stiefel geschlüpft war und sich wieder aufgerichtet hatte, um etwas genaueres zu erkennen. Es konnte von Essen bis hin zu Waffen alles beinhalten, ihr Haus war ordentlich, aber hin und wieder fanden Dinge ihren Platz dort, wo niemand sie vermutete. "Düsterkeit", fügte sie an und gab ihm im Vorbeigehen eine Kopfnuss. "Gibt es. Und das Herunterfallen von Klippen klingt prima. Haben wir früher schließlich auch zum Zeitvertreib gemacht."

"Du hast früher zum Zeitvertreib auch die Bibliothek der Swafnirkirche in Schutt und Asche gelegt," gab Tjark zu bedenken und schulterte das Bündel, welches offensichtlich gut ausgepolstert worden war, denn er klapperte und raschelte nichts. Der Thorwaler musterte seine Frau einmal von oben bis unten, ehe er ein breites Grinsen aufsetzte. "Aber wenn du darauf bestehst - wer als erstes auf der Klippe ist hat gewonnen!" und noch ehe Svea protestieren oder zustimmen konnte, knallte die Tür gegen die Wand der Hütte.

Den Mund halb offen stehend, weil sie etwas hatte erwidern wollen, starrte sie ihm nach, dann - vermutlich wäre es ihren Mitreisenden völlig ungewohnt erschienen - prustete sie los und folgte Tjark, hinaus in die Dunkelheit. Sie kannte den Weg, kannte die Steine und Stolperfallen, jede Straße und den Geruch, der so sehr nach Heimat schmeckte. Dort oben auf den Felsen würde es nur noch deutlicher werden, dass sie zu Hause war und sie würde eher die Niederhöllen durchwandern, als auch nur noch eine weitere Sekunde dieses Geschenkes ihres Gottes zu verschwenden.

Tjark hatte die Beine in die Hand genommen und jeden Stock, jeden Stein und jeden Strauch übersprungen, der ihm auch nur untergekommen war. Er spürte den weichen Boden unter seinen Füßen, der immer dort nachzugeben begann wo die Heide ihren Lauf zog. Spürte die Steine, die sich spitz in seine Stiefel bohrten, dort wo der wahre Weg entlang ging. Er hörte hinter sich das rythmische Atmen seiner Frau und während er versuchte sein Tempo zu beschleunigen, machte ihm die verdammte Prügelei mit Phileasson einen Strich durch die Rechnung. Schwer keuchend und japsend hielt sich Tjark die Seite und musste dabei zusehen, wie ihn Svea überholte.

Schließlich hatte sie kurz vor dem Ziel Mitleid und hielt inne, die Monate des Umherlaufens hatte sie diesen Sprint bergauf nicht mit links, aber doch recht unbeschadet überstehen lassen und sie wandte sich zu Tjark um. "Das letzte Stück gemeinsam?", fragte sie ihn und hielt auffordernd ihre Hand entgegen. "Wer gewonnen hat, ist ja wohl klar."

"Pff," doch selbst dieses kurze Missachtung ihres eindeutigen Sieges vermochte Tjark nicht ohne japsen und schnauben über die Lippen zu bringen. "Gemeinsam... " stimmte er ihr zu und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Der Boden war nass geworden und hatte Flecken auf seiner Hose hinterlassen. Er richtete sich auf, blickte zu Svea und raubte ihr einen Kuss, ehe er versuchte doch noch nach vorne zu stürzen, kam dann jedoch keine zehn Meter weit, ehe er wieder stehen bleiben musste.