Thorwal, Boron 1017

Das Licht in der Höhle war bläulich und schimmerte durchbrochen von den Reflektionen des Wassers. Bridgera Karvsolmfara betrachtete eingehend das Werk, welches sie auf Sveas Haut gezeichnet hatte und schien zufrieden zu sein. Mit einem feuchten Tuch, dass vor Walrossfett triefte, wusch sie die letzten Reste Farbe und Blut von der geröteten Haut, ehe sie einen großen Schluck Met aus einer Kürbisflasche an ihrer Hüfte nahm, und dieses aus gespitzten Lippen auf den Rücken der jungen Swafnirgeweihten prustete. "Läka huden. Läka..." murmelte sie leise in Saga-Thorwalsch, ehe sie von Svea abrückte, die die ganze Zeit über Still gewesen und die Schmerzen ertragen hatte.
"Und nun, wo getan wurde was getan werden musste, wirst du mir von dem Berichten was dir widerfahren ist. Nicht von den Geschehnissen in Weiden oder dem Finsterkamm. Davon weiß ich. Geschichten reisen weit und geschwind. Ich will wissen, welche Wunden es in deiner Seele geschlagen hat. Nur so kann ich beurteilen, ob diese gut verheilt sind. Wie dick die Narben sind."

Welche Wunden es geschlagen hatte? Svea hätte am liebsten die Beine in die Hand genommen und wäre gerannt, aber es stand einer Swafnir-Geweihten nicht gut zu Gesicht, sich feige aus einem Kampf zurück zu ziehen, den es zu schlagen galt, also schloss sie für einen sehr, sehr langen Moment ihre Augen und atmete tief durch, bevor sie sich ihre Kleidung nahm und in die Tunika schlüpfte, die immer noch nass und kühl an ihrem Körper hing. Es war immerhin besser, in einer Hinsicht nicht nackt zu sein, wenn sie schon ihr Seelenleben offen legen sollte.
"Ich befürchte, Borbarad auf die Füße getreten zu sein. Mehrmals, wie auch immer Satinavs Wege das angestellt haben mögen, doch er sagte mir, dass ich aufhören sollte, ihm im Weg zu stehen."

"Mir scheint, dass es die zuvorderste Aufgabe einer wahren Schildmaid ist, sich dem Gegner mutig entgegen zu stellen," erwiderte die Karvsolmfara und die tiefen Furchen in ihrem faltigen Gesicht schienen sich noch tiefer in die ledrige Haut zu graben. "Du darfst nicht davor zurückschrecken ihn zu erzürnen. Auch wenn ich nicht glaube, dass es das ist, was du fürchtest. Wieso greift die Angst nach dir?"

"Borbarad gegenüber zu stehen ängstigt mich nicht. Mir macht Angst, was er tun wird -mit den Kindern und mit Tjark - niemand kann ihm im Moment Einhalt gebieten und obwohl ich nicht aufhören werde, ihm die Stirn zu bieten, fürchte ich, wen er sich als nächstes holt. Unschuldige Leben ... ein Frevel bei allen Göttern."

"Wir sollten die Runen befragen..." erwiderte die Hochgeweihte und zog einen kleinen Beutel hervor. Darin klimperte und klapperte es. "Diese Runen habe ich vor vielen, vielen Jahren aus den Knochen eines gestrandeten Wales geschnitzt. Ich habe Tagelang versucht ihn zu retten, doch was auch immer ich tat, es gelang mir nicht. An dem Abend, an dem er starb erschien er mir im Traum und trug mir auf aus seinen Knochen Runen zu schnitzen, die niemals fehl sagen würden!" sie schnürte den Beutel auf, schüttete die Knochen aus, die klimpernd auf den Stein trafen und reichte Svea ein Messer. "Du musst ihnen zu trinken geben Mädchen"

Mit Trinken war wohl eher Blut gemeint, als Wasser, das verriet schon das Messer und Svea nahm es ruhig in ihre Finger, öffnete die andere Hand und zögerte keine Sekunde, sich einen tiefene Schnitt durch ebenjene zuzufügen. Nicht gefährlich tief, aber doch genug, um die Runen und ihre Mächte zufrieden zu stellen. Sie betete innerlich zu Swafnir, bat ihn um einen Rat, wohin ihr Weg führen würde, um Mut, für das, was kommen sollte. Und sie dankte ihm für Bridgeras Anwesenheit, die irgendwie tröstlich wirkte. So, als ob sie nun eine Last abgegeben konnte, wenigstens für eine Weile.
Sie lenkte ihren Blick zurück hinunter vor ihre Knie. Satt und dunkelrot fielen die Tropfen auf die hellen Runenknochen, benetzten sie, schlossen ein paar davon kurz ein.

Auch Bridgera nahm das Messer an sich, fügte sich einen tiefen und blutigen Schnitt zu und benetzte die Runensteine. "Ear byþ egle eorla gehwylcun. ðonne fæstlice flæsc onginneþ hraw colian, hrusan ceosan blac to gebeddan; bleda gedreosaþ wynna gewitaþ, wera geswicaþ", begann Bridgera in einer Stimme zu skandieren, die selbst für die mehr als zwei Schritt messende Frau zu tief zu sein schien. Sie nahm die Runen in die Hand, schüttelte sie. Dann warf sie die Steine auf den Boden. Funken stoben - blaue Funken stieben in alle Richtungen, während die Steine fielen, und das Blut auf ihnen langsam in die Poren des Knochens einzusogen schienen. Die Hochgeweihte des Swafnir blickte auf die Runen und fuhr ihre Formen nach. "Du wirst dem roten Tod begegnen..." flüsterte sie leise.

"Dem roten Tod?" Das konnte alles bedeuten. Ein blutiges Ende, jemand mit einem roten Umhang, ein Rotschopf ...

Die Geweihte nickte, fuhr mit ihren blutigen Fingern über die Runen, die jedoch nicht weiter zu beschmutzen schienen. "Der rote Tod... ist ein Feind, den du nicht bezwingen kannst. Er zieht eine todgeweihte Furche durchs Land, Verwesung reißt er in Mutter SUMUs Leib. Blut geht vor ihr hin, Blut wird ihr folgen. Der rote Tod wird dir dort begegnen, wo der Yaquir seinen Lauf durchzieht."

Das war das Problem mit Runen - sie sprachen genauso wie ihre Deuter in Rätseln. "Ist es dort, wohin ich gehen sollte?"

"Du solltest nicht dorthin gehen, denn ich fürchte um dein Leben und deinen atmenden Leib. Aber du wirst dorthin gehen, denn das sagen die Runen auch. Doch es wird noch nicht dein Ende sein. Doch die Runen sprechen seltsam und ich kann es nicht verstehen. Sie zeigen mir einen Stein, der wertvoller ist als die Beute eines ganzen Jahres. Die Runen sprechen von zwiefachem Verrat, der zwiefach verraten wird. Ich..." sie schüttelte den Kopf, fuhr erneut über die Runen, die nun begannen vor ihr weg zu gleiten, ja geradezu fort sprangen. "Die Runen sprechen von einem Adler, der dem Albatros begegnet."

"Was für ein Stein? Und ... ein Adler? Zweifacher Verrat ...?" Sie ahnte schon, dass der Albatross sie selbst sein sollte, das zumindest hatte ihr Calenleya ja mitgeteilt, seitdem sie die Seelentiere erkennen konnte.

"Aber die Runen sagen auch etwas über Tjark und die Kinder - sie sagen, dass du sie alle wiedersehen wirst. Die einen Früher, die anderen später. Die Runen sprechen von Schuppen. Von dem Abwerfen einer alten Haut und dem Wachsen einer neuen" die alte Swafnirgeweihte schüttelte den Kopf. "Ich sehe..." sie brach ab und schüttelte den Kopf.

"Was? Du siehst was?", hakte Svea nach und lehnte sich nach vorne. "Bitte!"

"Du wirst ihn retten können," flüsterte die Alte leise und sah Svea nun direkt in die Augen. "Du wirst die Gelegenheit haben ihn zu retten. Aber alles in dieser Welt kommt mit einem Preis und der Sphärenschänder wird dich vor schwere Entscheidungen stellen. Der vielfach Verfluchte ist bereits erstarkt und hat seine Macht gefestigt. Er gärt im Untergrund wie eine schwelende Wunde und um den Körper zu retten ist es manchmal von Nöten ein Körperteil abzuschneiden."

"Gibt es HInweise auf ihn? Wo er ist?" Sie würde sich Gedanken über das Abschneiden von Körperteilen machen, wenn es so weit war.

"Bor... Hira.... Nuab.... Roab..." flüsterte die Alte nur und schüttelte den Kopf. "Keine dieser Silben ergibt einen Sinn. Es gibt keinen Begriff im Saga-Thorwalsch, der ihnen gleich kommt. Ich fürchte, die Steine können es nicht sagen..." flüsterte sie leise und schlug die Augen nieder. "Ich spüre eine dunkle Präsenz, spüre H'Rangas zischelnden Atem in meinem Nacken!"

"Ich danke dir", schloss Svea leise, beschloss aber, sich die Silben vielleicht dennoch lieber zu merken. Wenn sie eines gelernt hatte, dann das, wie wenig Zufall es noch gab. "Der Rest wird sich finden. Aber eine Frage habe ich noch - ist es somit auch der Wille meiner Kirche, dass ich abreise und weiterhin dort draußen versuche, ihn aufzuhalten? Koste es, was es wolle?"

Die Alte nickte langsam. "Der Schatten, der sich zusammen braut, wird auch auf Thorwal hernieder gehen. Wir können uns vor dem was kommen wird nicht verschließen, so sehr wir dies auch wollen!" erklärte die Thorwalerin langsam. "Es ist nicht nur der Wille, sondern der Befehl Swafnirs sich gegen dieses Unheil zu stellen. Wir sind zu wenige, als das wir alle ausziehen könnten, um uns diesem Übel entgegen zu stellen. Wir müssen hier bleiben und Thorwal und die Wale schützen. Aber dich hat der Gottwal ausersehen!"

"Dann werde ich seinem Ruf folgen, wohin er mich auch führt", schloss Svea leise und sah hinunter auf ihre blutverschmierte Hand. "Hab Dank", wiederholte sie, dann ließ sie sich gegen die Wand zurücksinken. "Ich werde die Schuld begleichen."

"Dessen bin ich mir sicher," erwiderte Bridgera und ein sanftes Lächeln überzog ihre Lippen, vertiefte die Furchen um ihre Augen und die Alte klaubte die Runen wieder auf, warf sie in den kleinen Beutel und verschnürte diesen wieder sorgsam, ehe sie ihn sich wieder um den Gürtel wand. "Alle Segen und guten Wünsche Thorwals werden dich begleiten und über das Meer führen"

"Swafnir sei mit dir, Bridgera", gab Svea den Wunsch mit auf den Weg der Hochgeweihten. Und sie war insgeheim froh, dass sie nicht noch viel mehr hatte preisgeben müssen, denn es in Worte zu fassen war ihr fast unmöglich.

Der nächste Tag in Thorwal verging schneller als Svea lieb sein konnte. Nachdem Sie wieder zurück gekehrt war, verbrachten sie und ihre Freunde noch einige letzte gemeinsame Stunden, ehe es galt sich wieder zu trennen. Makel und Calenleya nutzten die Kraft der Steine, deren Magie auf den Inseln im Nebel wider erstarkt war und reisten zurück nach Menzheim, während Zajido beschloss zurück zu Rena und Ediona zu reisen. Zurück blieben Lanan, der weiterhin eher schweigsam den Wald am Rande Olports durchstreifte, bis Svea wieder zum Aufbruch bereit wäre, und die Swafnirgeweihte selbst.
Die Winterstürme hatten begonnen, große Kawentsmänner krachten gegen die hohen Felsen und machten es für die übrigen Thorwaler unmöglich auszulaufen.

Die Reise zurück nach Thorwal war ebenso wenig angenehm, wie umgekehrt. Regen, Schnee und Matsch, Glätte und herabgefallene Blätter, die nun schmierig auf dem Weg lagen machten das Laufen unangenehm und zu einer Rutschpartie, durch die sich Svea mehr quälte als irgend etwas anderes. Doch sie kam voran, getrieben von der Hoffnung, dass sie in Ruthor irgendetwas finden würde, was ihr weiter half. Doch zuvor musste sie nach Thorwal, einige Sachen packen und organisieren, ihre Axt schärfen lassen und schlussendlich mit den Steinen reisen, die in Olport aufgeladen worden waren, wie man ihnen mitgeteilt hatte.
Als sie schließlich zurück in die Stadt kam, lag die schon im Dämmerlicht des frühen Abends. Noch immer herrschte eine schwere Stille über dem Ort, drang durch jede Kleidungsschicht und kühlte Sveas ohnehin kalte Haut noch weiter aus. Jetzt, zu dieser TAgeszeit, in der sie eigentlich zu Hause heimelig mit ihren Freunden gesessen hatten, lachend, schwatzend, trinkend, konnte sie keinen Fuß in ihr eigenes Heim setzen. Sie fürchtete, sich nicht auf den Beinen halten zu können, wenn sie erneut all den Erinnerungen gegenüber stand und zugleich die nagende Schuld dabei in sich fühlte, also beschloss sie, die Nacht bei ihren Walwütigen zu verbringen. Ob Naya sie über die Schwelle ließ, nach dem letzten Zusammentreffen, war ohnehin fraglich und sie sparte sich den nächsten Schlag in die Magengrube lieber für den Morgen auf.

Kaum dass Svea Thorwal-Stadt betreten hatte, waren schon eilige Rufe und lautes Geschrei zu vernehmen. Ein gewaltiges Durcheinander, allgemeiner Unmut und lautstarke Rufen durchrissen die Luft, schlugen ebenso hart in Sveas Gesicht wie der eisige Wind. Sie suchte sich bereits nach dem Herd dieser Unruhen um, als ihr ein großer Mann entgegen lief. Sein von Mehl weißer langer Bart und seine buschigen Brauen waren ebenso unverkennbar wie der Geruch nach Fladen der ihm Anhing: Tjolsten, der Bäcker der östlichen Gassen. "Svea!" rief dieser, als er die Geweihte erkannte. "DIch schickt Swafnir, das Wohl! Irgend ein Thorwaler verarbeitet die Ottas zu Hackfleisch!"