Schatten im Zwielicht - Die Kammer der Gezeichneten

"Hast du Svea gesehen?" fragte Raidri leise und legte den großen Tornister voller Steine ab, den er zuvor getragen hatte um sich selbst bei dem Parkour noch mehr zu fordern. Eigentlich hatte er erwartet Svea dort zu treffen, damit sie gemeinsam trainieren konnten, aber sie war nicht aufgetaucht und so langsam begann er sich Sorgen zu machen. "Die Akademie ist nun nicht so groß - und so wie Savertin sie die ganze Zeit ansieht würde es mich nicht wundern, wenn sie auf irgend einem dieser Seziertische landen würde!"

"Sie ist gemeinsam mit Calenleya und einer der Sphären nach Thorwal aufgebrochen, um ihrer Familie noch einen Besuch abzustatten", antwortete Rena mit einem skeptischen Blick auf den großen Rucksack, den er voller Steine gepackt hatte und der jetzt mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkam. Kraft war niemals das Problem des anderen, das zumindest wusste sie - was ihm fehlte war die notwendige Körperbeherrschung, mit der er sich selbst unter Kontrolle hielt, aber das wollte sie ihm nicht so offensichtlich sagen. "Sieht so aus, als würde deine Übungsstunde ein wenig warten müssen. Sie ist rechtzeitig zur nächsten Mission wieder hier."

"Na sie ist ja optimistisch - wir wissen doch noch nicht einmal wann der nächste Auftrag ist, geschweige denn wo er uns hinführen wird..." erwiderte Raidri gedehnt und schüttelte den Kopf. "Aber gut, ich glaube das tut ihr ganz gut - sich mal den Kopf freipusten zu können meine ich. Sie wirkte in letzter Zeit so... angespannt!" er verzog den Mund, kam zu Rena und setzte sich neben sie an den Tisch, wo die Jüngere über Karten brütete. "Wie geht es dir?" fragte er leise. "Abgesehen von dem offensichtlichen meine ich."

"Sie hat ein Zeichen bekommen, das dafür sorgt, dass ihr Volk sie hassen wird, sobald sie es herausfinden", stellte Rena staubtrocken fest und entschied sich dagegen sich in einen der Sessel sinken zu lassen, weil sie nicht wusste, ob ihre Stofflichkeit nicht gerade dafür sorgen würde, dass sie einfach durch den Stoff hindurch glitt. Stehenbleiben konnte sie immerhin - noch war sie nicht durch den Boden gefallen und in irgendwelchen anderen Kellergeschossen aufgetaucht. Vielleicht sollte sie es bei dem Raum versuchen, den sie zuvor nicht hatte betreten sollen ...
"Ich werde, sobald ich wieder stofflich werde, wieder damit beginnen, die Übungsplätze mit den Schatten anzupassen. Es gibt einiges an Optimierungspotential, das mir aufgefallen ist und bei dem Savertin mir freie Hand gegeben hat."

"Klingt nach einem Plan," erwiderte Raidri, ließ aber Rena nicht aus den Augen. "Aber du bist meiner Frage ausgewichen.." stellte er fest. "Nicht dass du nicht gut darin wärst. Aber vielleicht solltest du mal eine Pause einlegen. Und dir erlauben dich auch mal fünf Augenblicke um dich zu kümmern!"

"Wozu?", stellte sie die simple Gegenfrage und runzelte die Stirn, Raidri einen Moment lang betrachtend. "Momentan kann ich mich nicht beklagen. Ich habe meinen Arm zurückbekommen in Form eines heiligen Artefakts meiner Kirche, wir befinden uns vielleicht in einer schwarzmagischen Akademie, allerdings mit einem Magier, der bereit ist alles gegen Borbarad zu unternehmen ohne dabei lang um den heißen Brei zu sprechen und ich habe 1500 Dukaten für den Verkauf eines Buchs herausschlagen können."

"Niemand kann deine Erfolge bestreiten," stimmte Raidri zu. "Ich mache mir nur Gedanken um dich - das ist alles," erklärte er und trat neben sie, ergriff ihre linke, silberne Hand, die weiterhin stofflich war. "Ich habe die Rolle als dein Ziehvater angenommen. Und Calenleya hat mir gestern Abend etwas gesagt, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich will einfach nur sicher gehen, dass es meiner Familie gut geht, verstehst du? Ich weiß ganz genau wie es aktuell aussieht. Und was für eine Anspannung das ist."

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete sie Raidris Gesicht und schob ihn dann mit der stofflichen Linken hinüber bis zu einem der Sessel. "In Ordnung, Raidri. Was ist los?", fragte sie. "Ich würde mich ja setzen, aber das sähe gerade albern aus. Entschuldige also, wenn ich stehen bleibe. Was hat Calenleya dir gesagt?"

Raidri runzelte die Stirn. "Du lenkst ja schon wieder von dir ab," stellte er murrend fest, ließ sich aber in den Sessel drücken. "Und Calenleya sagte... warte, ich bekomm es noch zusammen: 'Du läufst vor Verantwortung und deiner Familie fort. Nichts konnte dich binden - es wird Zeit auch das hinter dir zu lassen' das waren ihre genauen Worte!"

"Ah - daher weht also der Wind", meinte sie. "Und jetzt hast du dir darüber Gedanken gemacht und was genau festgestellt? Komm schon, Raidri, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Du kommst nicht umsonst mit einem Rucksack und einem Haufen Steine hierher."

"Eigentlich kam ich gerade vom Übungsparkours," erwiderte Raidri. "Aber wenn dir ein Stein besonders gut gefällt - nimm ihn dir, ich schenke ihn dir gerne!" erwiderte er breit lächelnd. "Aber ich weiß was du meinst. Weißt du ich.... ich sollte mich darum bemühen Rondriga noch einmal wieder zu sehen - sie hat mich sonst mindestens einmal im Jahr gesehen und das... fiel irgendwie flach. Ich sollte mich darum kümmern was mit Winhall geschieht, wenn ich mal nicht mehr bin. Nicht unbedingt wegen all dem hier, sondern allgemein. Ich habe so viele Kinder und Frauen gehabt - wenn ich irgendwann mit 80 oder 90 sterbe sollte geklärt sein wer meine Ländereien bekommt. Und ich muss mich bei einigen Frauen entschuldigen. Und auf die Familie die ich habe und dir mir etwas bedeutet - mehr als nur Blut ist - aufpassen."

"Du kannst bestimmt mit Mirhiban darüber sprechen. Savertin hat noch eine zweite Sphäre und ich persönlich bin kein Freund davon so etwas lang vor sich herzuschieben, Raidri. Svea hat die Möglichkeit jetzt genutzt und ich denke, es wäre sinnvoll, wenn du das auch tust. Wir wissen nicht, wann wir wieder die Gelegenheit dazu haben werden und mit Briefen allein kommen Nachrichten nicht so an, wie sie es sollen. Rondriga freut sich bestimmt dich wiederzusehen."

Raidri schüttelte den Kopf. "Aber ich will auch dich nicht alleine lassen. Rena. Du bist so jung - weißt du überhaupt wie jung du bist? Und dennoch bürden die anderen - ich eingeschlossen - dir all das auf!" seine Stimme war leiser, damit sie niemand sonst hörte. "Ich wünschte einfach, wir könnten wieder an einem Tisch sitzen. Als Familie. Rondriga. Du. Ich. Weißt du noch? Wie damals in Winhall!" er lächelte schwach. "Und ich muss dir noch Padraig und Padraigin vorstellen!"

"Raidri", mahnte Rena lediglich mit einem tiefen Seufzen und lächelte schief. "Ich bin kein Kind mehr. Ich bin erwachen, diese Welt voller Dämonen und böser Magier ist die Welt, in die ich geboren wurde und mit der ich umzugehen weiß. Es gibt keinen Grund sich um mich Gedanken zu machen. Mein Herr ist bei mir", antwortete sie und zuckte mit den Schultern. "Ich tue das, wofür ich ausgebildet und mein Leben lang vorbereitet wurde. Die große Tafel muss noch ein wenig warten, aber wir haben sie dann in jedem Fall verdient."

Raidri nickte langsam, verständnisvoll. "Nichts läge mir ferner als dir deine Eigenständigkeit abzuerkennen!" erwiderte er leise, beinahe gequält. "Ich wollte das nun wirklich nicht zum Ausdruck bringen. Ich versuche nur irgendwie soetwas wie ein funktionierendes Familienkonstrukt aufzubauen. Eine Möglichkeit für dich und alle anderen aus meiner Familie da zu sein. Und gleichzeitig die bisherigen Gezeichneten mit meiner Erfahrung zu unterstützen!"

"Geh schon zu Rondriga, Raidri, und umarme sie von mir. Kläre die Dinge, die da noch offen sind und die dir jetzt gerade auf der Seele brennen. Ich komme hier mit Makel, Ediona und Olena schon zurecht und halte Savertin schon im Zaum. Ich ruf dich genauso wie Svea und Calenleya über die Steine."

"Weißt du eigentlich, dass ich ohne dich getroffen zu haben wohl niemals an diesen Punkt gekommen wäre? Und damit meine ich nicht Mirham, sondern meinen persönlichen Werdegang..." er lächelte sacht. "Ich glaube wirklich, dass ich - auch all dem Bösen und Dunkeln zum Trotz - hier die Chance habe zu ergründen was wahrlich wichtig im Leben ist!" erklärte er sanftmütig. "Ich will nur, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde Rena!"

"Ich weiß", bestätigte sie ihm leise und wünschte sich, sie würde ihm sagen können, wie es in ihrer Zeit sein würde. Sie wünschte sich, dass sie einander wiedersehen würden - dass sie eines Tages wieder zurück in ihrer Zeit war, ein alter Raidri am Tisch saß und sie darüber lachten, wie seltsam diese Reise war, aber das konnte sie nicht. Sie wusste es nicht und es machte sie rasend, diese Sicherheit nicht zu haben. Bevor sie ihn in der Nähe des Raschdulswalls bei den Spuren vom Donnersturm-Rennen getroffen hatte, hatte sie noch niemals etwas von Raidri Conchobair gehört. Die dunklen Befürchtungen pressten für einen kurzen Moment ihre Brust zusammen und nur mit einem tiefen Atemzug schaffte sie es, diese Gedanken wieder zurück nach hinten zu schieben.
Soweit waren sie noch nicht. Sie waren noch nicht bei einem Abschied - sie hatten Borbarad noch nicht gestellt, es war noch nicht einmal das passende Jahr. "Geh schon, alter Mann", lächelte sie sacht und deutete rüber zu dem Raum, hinter denen die letzte Sphäre lag. "Ich kann dich so leider nicht begleiten, sonst löse ich mir im Limbus auf. Du musst jetzt also selbst auf dich aufpassen. Komm nur sicher wieder zurück."

"Ich bin bisher von jedem meiner Abenteuer zurückgekommen!" erwiderte Raidri leise und stand auf, musterte Rena von Oben bis Unten, schien abschätzen zu wollen, ob er sie wirklich alleine lassen konnte. "Wenn das erledigt ist, dann kann ich mich voll und ganz meiner Aufgabe widmen. Euch widmen. Du kannst dich auf mich verlassen, verstehst du?" er senkte den Kopf und warf einen Blick zu den Raum mit den Sphären. "Dann werde ich wohl mal Grillbein fragen, ob er mich nicht transportieren kann. Sie dürfte zu der Zeit an Rohezals Turm sein!"

Nur mit einem letzten Wort des Abschieds und keiner kurzen festen Umarmung entließ sie Raidri hinüber zu den Sphären und betrachtete die Tür noch eine Weile, hinter der er verschwunden war und in deren Nähe sie so lang nicht kommen durfte, wie die Reise noch nicht abgeschlossen und die Sphäre vollständig in den Limbus eingetreten war. Sie war vor den Nachwirkungen gewarnt worden, wusste, was es bedeutete aber sie gönnte es den anderen, Zeit mit ihrer Familie zu haben. Raidri hatte noch einige Dinge zu klären, die nicht warten konnten und nachdem er sich jetzt darauf besonnen hatte, nicht mehr länger vor seiner Verantwortung wegzulaufen, nahm sie es ihm nicht übel gegangen zu sein. Rondriga hatte viel zu lang auf ihren Vater verzichtet und gern hätte sie die andere wiedergesehen, um noch einmal unbeschwert mit ihr sein zu können, aber diese Zeit war vorbei. Sie hatten Borbarad aufzuhalten - da war kein Platz mehr für diese Dinge und je eher sie das begriff, dass sie sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren hatte, umso  weniger würde das, was noch kommen würde schmerzen.
Ihre eigenen Schritte führen sie in einen anderen kleinen Eck der Kammern, in denen sie untergebracht worden war und mit der stofflichen Linken fischte sie einen Teil der Edelsteine aus dem Beutel, froh darüber, dass ihre Hand ihr jetzt noch gehorchte. Es war nur eine Hand - ihr Leben war nicht vorbei, auch wenn darunter kein Arm mehr war und sie noch immer nicht wusste, wie ihr Mann oder ihre Tochter darauf reagieren würden. Vorausgesetzt, sie würde sie noch einmal wiedersehen können - mehr tun können außer Geschichten über den modifizierten Stein zu erzählen, den Dschelef auf ihre Bitte hin nach Havena geschickt hatte und der nahe des Kinderbettes ihrer Tochter stand. Leonore hatte eine Mutter in Form von Idra und Invher, die sich um sie kümmerten und die da waren, wenn sie nachts durch Alpträume aufwachte - die nicht damit beschäftigt waren, einen Schwarzmagier zu jagen, damit diese Welt nicht in Sklaverei und Verderben endete. Vielleicht war genau das das Opfer, das sie hier bringen musste während Svea ihren Körper, Ediona ihren Verstand und Calenleya ihr ursprüngliches Wesen verlor.
Kopfschüttelnd schob sie die eigenen Gedanken bei Seite, weil der Trübsinn sie hier nicht weiter brachte. Er hinderte sie nur daran weiter zu machen und das zu bedauern, was sie nicht auf Dauer haben konnte, obwohl sie es ihrem Herrn allein zu verdanken gehabt hatte, dass sie es hatte. Sie sollte jetzt nicht gierig sein und mehr wollen als ihr zustand. Glitzernd schob sie die Edelsteine vor sich und schloss die Augen, formte leise und sichere Worte als Dank für jenen Handel, den ihr Gott ihr ermöglicht hatte und für den ihm jetzt ein Teil der Gewinns zustand.

Die kleinen Münzen fielen blind zu Boden, ein Geräusch das beinahe das Öffnen der Tür, als Savertin eintrat und diese wieder hinter sich schloss. Seine lange Magierrobe raschelte leise und der hochgewachsene Magier trat neben sie, betrachtete die blinden Münzen und schüttelte verständnislos den Kopf, starrte dann aber weiterhin ins Feuer. "Was ist Glück?" fragte er an sie gewandt.

"Ein Treffen mit dir nur sehr selten", beantwortete sie nur knapp ehe sie sich von ihrem Platz wieder erhob und den Blick zu dem hochgewachsenen Magier wandte. "Sag du es mir. Ich kenne Glück in den unterschiedlichsten Varianten und die Wenigsten davon haben etwas mit Gold oder Edelsteinen zu tun. Was ist für dich Glück?"

"Solange Leben da ist, gibt es auch Glück, und der Mensch ist gerade so glücklich, wie er es seinem eigenen Entschluss nach sein will. Glück ist Selbstgenügsamkeit, denn nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht ist arm. Wunschlosigkeit hingegen führt zu innerer Ruhe. Die Menschen neigen dazu, den Wert der Dinge, die sie nicht erlangen konnten, zu überschätzen, denn die Dinge haben nur den Wert, den ihr ihnen beimesst, und überall dort, wo ihr es antrefft, müsst ihr euch das heraussuchen, was gut für euch ist. Ein guter Freund mag mehr zu eurem Glück beitragen als tausend Feinde zu eurem Unglück. Das größte Glück des Lebens besteht wahrscheinlich in der Überzeugung, geliebt zu werden. In all seinen Formen mag das Glück euer Antrieb sein, euch immer wieder gegen die Versuchung der Resignation zu stemmen. Vergleichen jedoch ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit", rezitierte Savertin leise. "Das bedeutet, dass Calenleya für mich Glück bedeutet. Und die Möglichkeit mich selbst zu entfalten."

Rena verschränkte die Arme, während sie den Ausführungen zuhörte, die Savertin hier von sich gab und die auswendig gelernt waren. Zumindest bis zu den letzten beiden Sätzen, von denen sie nicht erwartet hatte, sie jemals von ihm zu hören und sie dieses Mal auch uneingeschränkt zu glauben. "Weißt du", begann sie nach einer Weile des Schweigens und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Gespräche mit dir wären viel angenehmer, wenn du nicht ständig aus Bücher rezitieren würdest. Warum bist du also hier und betrittst die Kellergewölbe? Dass Calenleya gemeinsam mit Svea fort ist, darüber bist du informiert und ebenso wohin sie gegangen sind - daran kann es also nicht liegen."

"Das Buch heißt 'Gespräche mit Rohal dem Weisen'," erklärte Savertin geduldig. "Ein äußerst spannendes Werk - wenngleich auch in seiner Naivität durchaus beneidenswert," erklärte er und musterte Rena eingehend. "Ich bin hier, weil ich gerne weiß mit wem ich arbeite. Und Menschen lernt man nur im privaten Gespräch kennen. Wenn andere Anwesend sind verändert sich das eigene Wesen. Das liegt an der Rolle die wir einnehmen und die abhängig von Ort und Gesellschaft ist. Ich will also die echte Rena kennenlernen. Ist das denn so abwegig?"