Kapitel 10

"Sie haben bislang bei jedweden Konflikten die Oberhand behalten. Wir sind seit Jahren keinen Meter weiter voran gekommen - die Nordlinge kennen ihr Land und sie kämpfen ohne Erbarmen bis der letzte Mann fällt. Ich habe keine Bedenken dabei, dass sie auch mit der Kirche zurecht kommen werden", entgegnete Lyra, den Blick auf die jüngere Zauberin gerichtet ehe ein schiefes Lächeln über ihr Gesicht huschte. Sie konnte ihr diese Befürchtungen nicht verdenken, vor allem aber konnte sie es ihr nicht verdenken, dass sie sich um die Menschen im Norden sorgte. Wahrscheinlich wäre es ihr ähnlich gegangen, wenn sie nicht die Alternative gekannt hätte.
"Lassen wir sie hier gewähren, haben wir bald irgendwo ein zweites Kaladir. Dann befürchtet die Kirche erneut eine Rebellion und sie fangen damit an, Zauberern die Magie auszubrennen. Sie heißen es gut, dass sich die Templer unserer Magie bedienen, ohne zu fragen und es wird nur noch schlimmer, wenn wir nicht schnell etwas dagegen unternehmen. Wir können nicht offen gegen die Kirche vorgehen, aber wir können sie schwächen und genau das müssen wir jetzt tun. Bitte, Faye. Lasst uns dabei nicht im Stich."

"Lyra, du verlangst von uns, dass wir ein wesentlich stabileres Land ins Chaos stürzen", erwiderte Faye ungläubig und wusste nicht, ob das ein böser Scherz sein sollte. "Das Land, das uns lehren könnte, wie ein Zusammenleben aussehen könnte - aber nur, wenn wir es nicht ... in Schutt und Asche legen. Was glaubst du, wie viele Unschuldige würden wir opfern? Wie viel magisches Potenzial verschwenden? Die ersten, die leiden würden, wären die magisch begabten Kinder, die nicht wie hier dem fragwürdigen Schutz eines Zirkels in Obhut gegeben werden, sondern von Meistern ausgebildet werden, jeder für sich. Was bei uns geschieht, ist grausam genug. Aber ... stehst du wirklich dahinter, diesen Krieg, dieses radikale Vorgehen, dorthin zu bringen? Es anderen anzutun? Denn so schnell kann selbst der Norden die Kirche nicht ausdünnen."

Flammenherz. Dieser Name war nicht nur neu für ihn, er klang dazu auch reichlich seltsam. Betretend, fast als würde jemand anders seinen Körper steuern, nickte er und musste sich selbst ermahnen Luft zu holen. Ein- und auszuatmen. „Mhhm“, machte er leise und sah Walerian dann direkt in die Augen. Er musste sich getäuscht haben. Vielleicht war es nur eine Handlung aus seinem übermüdeten Zustand heraus, welche er in ein paar Stunden bereuen würde. Doch um es zu bereuen hatte es sich diesen einen, kurzen Augenblick zu gut angefühlt. „Entschuldige. Ich weiß das“, er ließ seinen Satz unvollständig, war er sich doch sicher das Willem wusste was er sagen würde. Die Sonne hinter ihnen ging auf. Und mit der aufsteigenden Sonne stieg auch dieses kurze Gefühl in den Himmel, das Aristeas für einen kurzen Moment geglaubt hatte zu fühlen. „Ich verspreche dir das ich finden werde wonach du suchst. Für Faye, für dich, für deine Mutter. Für jeden Magier.“ Er lächelte schief und hob die brauen ein Stück weit. Er machte keinen Hehl daraus wie er empfand. Walerian war ein Prinz. Wenn jemand plötzliche Emotionen anderer verkraften konnte, dann er. „Wir sehen uns nachher nochmal. Ich denke lange wird es nicht mehr dauern bis wir aufbrechen.“ Und mit diesen Worten fing langsam an der Schnee zu fallen, während der junge Zauberweber ihm noch einmal gegen den Oberarm klopfte und sich dann umwandte. Er wollte nicht das Willem oder irgendjemand sonst ihm folgte. Er wollte nur die hohen Häuser neben sich spüren, das Treiben der Leute. Alltag. Und den Schnee, der, kurz bevor er ihn erreichte, schmolz.

"Was glaubst du geschieht, wenn hier die Hexenjagden beginnen, Faye? Wie viele Unschuldige werden sterben, wenn erst in unseren Städten die Scheiterhaufen brennen und Nachbar einen Nachbarn beschuldigt? Wie viele Kinder werden in unserem Land brennen, auch ohne auch nur einen einzigen Funken von magischer Begabung, nur weil sie einen Stein geworfen haben?", stellte sie die einfache Gegenfrage.
"Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Wir können die Kirche nicht verbieten und wir können ihr keine weiteren Regeln diktieren. Wie sollen wir gegen einen nicht existenten Gott ankämpfen, der Menschen wie uns verdammt, Faye?"

Eine ganze Weile musterte Faye die andere, sah deren Wünsche und das Zukunftsbild, das sie malte, düster über ihnen aufragen, dann runzelte sie die Stirn. "Wie bist du hierhin gekommen?"

"Magisch. Ich habe Walerians Spur verfolgt und bin seiner und deiner Blutlinie bis hierhin gefolgt."

Faye nahm es mit einem nachdenklichen Kopfnicken hin. Das war ein Anfang. "Wir können die Kirche vielleicht nicht verbieten, aber wir können ihr die Handlungsgrundlage entziehen."

Willem blickte dem Freund hinterher und verschränkte die Arme vor der Brust, betrachtete den Feuermagier, wie er langsam aus seinem Blickfeld verschwand und verfluchte sich und die ganze Welt gleich mit. Aristeas konnte für all das nichts und schien immer und immer wieder auf den Boden geschmettert zu werden. Sein Freund hatte all das nicht verdient und nicht wenig von all dem geschah, weil er ein Magier war.
Ein weiterer Punkt auf seiner langen Liste, weshalb er gegen die Kirche arbeiten musste. Und auch eine Lösung würde zu finden sein. Er stockte einen kurzen Moment. Sien Vater tat nichts unüberlegt. Er hatte ihn Maia versprochen - der Tochter eines ranghohen Templers. War das... seine Eintrittskarte in deren Reihen? Eine Möglichkeit von Innen etwas zu ändern? Natürlich - wieso sonst sollte der König ihn an ein Mädchen geben, die vom Reinen stand deutlich unter ihm stand?

Lyra runzelte die Stirn über die Miene, die sie auf Fayes Gesicht fand und legte die Arme auf dem Tisch ab, die Hände ineinander gefaltet während ihre Gedanken zu rasen begannen.
"Was hast du vor?"

"Wenn es keine Magier gibt, von denen Magie an die Templer gegeben werden kann - wenn es keine Zirkel mehr im Zaum zu halten gibt. Welche Macht hätte die Kirche dann noch außer die der reinen Muskelkraft? Und mit der kann egal wer allemal mithalten."

"Und wie willst du das anstellen? Alle Magier aus den Zirkeln bringen und in den Norden auslagern? Wir bräuchten Armeen um die Zirkel zu befreien."

"Alles, was wir brauchen, ist Magie, Lyra", antwortete Faye und lächelte still. "Mehr Magie, als sie eindämmen können."

"Woher? Walerian hat mir über euer Gespräch mit den Erlen erzählt. Die Magie schwindet schnell und meine Magier bringen nicht genug auf und nehmen wir die, die es im Norden gibt, sorgen für eine Panik bei den Menschen in unseren Städten. Davon abgesehen, dass wir nicht wissen, ob sie uns helfen wollen - wir gehen sie nichts an."

"Vielleicht wäre es sinnvoll, erst nach Hilfe zu fragen, bevor wir ihr Land ruinieren, was meinst du? Kommt vielleicht im Allgemeinen besser."

"Wenn du die Magier aus dem Norden herbringst, ist das ein Angriff auf unsere Grenzen. Hieronim wird seine Armee dorthin schicken, um die Tumulte zu beenden und ich werde ihn nicht so einfach davon überzeugen können, die Grenzen seines Reiches für die Nordlinge zu öffnen, weil sie uns vielleicht mit der Kirche helfen können."

Zur gleichen Zeit, an einem anderen Ort.

"Wie euer Heiligkeit also sicherlich versteht, wäre eine Kooperationen meiner Wenigkeit mit eurem heiligen Orden," der lange Kapuzenmantel raschelte, während die große, breitschultrige Gestalt über den polierten Marmor glitt, der eine gewaltige, lodernde Flamme zeigte. „Für beide Seiten ein lukratives Geschäft – der Vorfall in Kaladir wird ohne jeden Zweifel den Funken der Rebellion und der Hoffnung in anderen Zirkeln entfachen. Und auch die Gilden der Assassinen werden euch früher oder später zusetzen. So wie sie es in Kaladir getan haben – sie fühlen sich als Beschützer einer höheren Weltordnung und sympathisieren mit den Magiern, die ebenso wie sie aus der Gosse kommen. Bisher konnten eure Templer nicht gegen sie vorgehen. Sie arbeiten aus dem Schatten heraus und auch wenn eure Soldaten beinahe unschlagbar auf dem Feld sind, so ist das doch nicht ihr Terrain. Ich kann euch helfen gegen sie vorzugehen. Ich kenne ihre Eigenarten, ihre Taktiken, ihre Verstecke. Ich kenne die Schwächen der Assassinen eure Heiligkeit – und alles was ich dafür verlange ist in euren heiligen Orden aufgenommen zu werden. Gemeinsam könnten wir die kritische Masse erreichen die es benötigt, um in diesem Land endlich für Ordnung zu sorgen!“ Alisander hob die verstümmelte Hand an und schob damit die Kapuze zurück.
„Und mit mir als Handlanger müsst ihr euch auch nicht mehr um die Einwürfe von Adligen kümmern und sei ihr Status noch so hoch.“

"Ich will die Magier des Nordens garantiert nicht an die Grenzen zu Licentia schicken", erwiderte Faye und schüttelte den Kopf. "Wir werden unsere Magier rausbringen aus dem Land. Ich weiß noch nicht, wie wir sie alle erwischen, ich fürchte, dazu ist mehr nötig als das bloße Wollen und die Ahnung, wo die Zirkel liegen und mehr Zeit, als wir gerade annehmen. Aber soll die Kirche ruhig ohne magische Verstärkung der Templer an die Grenzen des Nordens stoßen."

Nachdenklich nickte Lyra und starrte auf ihre Finger hinunter, ihre Gedanken noch einmal um das kreisen lassend, was Faye ihr da gerade vorschlug. Es war eine Chance, die Magier aus dem Land zu bringen und dann erst die Templer gegen die Grenzen vorzuschicken, eine gefährliche und eine, die deutlich mehr Zeit erforderte als sie hatten. Sie würden die Zirkel befreien müssen - sie würde in Erfahrung bringen müssen, wo sich die Zirkel genau befanden, wer in ihnen vertrauenswürdig war und wer nicht. Welche Magier wirklich etwas mit Blutmagie zu tun hatten und die Rettung in den Norden nicht verdienten - sie würden nicht jeden davon mitnehmen können.
"Ich kann mein Möglichstes versuchen, während du dort oben im Norden Verhandlungen für uns führst, Faye. Ich versuche dir die Standorte der Zirkel zukommen zu lassen, sobald ich alle in Erfahrung gebracht habe und weiß, wie viele Zauberer mit wie viel Magie dort eingesperrt sind", antwortete sie und löste eine Hand, um damit in ihre Tasche zu greifen und ein metallenes, rundes Gebilde hervor zu ziehen und zu Faye rüber zu schieben. "Ein Xenogloss. Es hinterlässt keine magischen Spuren, die Rückschlüsse auf den Anwender oder seinen Aufenthaltsort hinterlassen - wir sind damit beide in Sicherheit und können darüber in Kontakt bleiben. Es ist mit meinem verbunden und eigentlich habe ich es mitgenommen, um meinen Zirkel zu informieren, falls mir etwas zustößt", teilte sie mit und seufzte dann leise.
"Ich habe Cassian übrigens in die Hauptstadt geholt. Er hat seine Augen wieder zurückbekommen."

Faye besah sich das kleine Ding, dann schob sie es rasch in eine der verschließbaren Innentaschen, bevor sie nickte. "Danke, Lyra." Erst danach richtete sie ihr Augenmerk zurück auf das, was die Ältere nun sagte: Cassian. Der einzige, den sie wirklich hatten retten können und den sie dann doch hatten zurücklassen müssen.
"Was ist mit seiner Magie?", fragte sie vorsichtig nach.

"Der Inquisitor hat ihm nichts davon ausgebrannt. Er hat ihm körperlich weh getan und er ist noch immer angeschlagen davon, aber seiner Magie geht es gut - sie ist momentan nur ein klein wenig ungelenk und stolpert, aber das ist nichts, was wir nicht wieder hinbekämen mit ein wenig Zeit und Ruhe. Er ist in Sicherheit und am Hof - kein Templer greift damit in seine Bewegungen mit ein und bewacht, was er tut. Das ist zumindest besser als ihn blind flüchten zu lassen. Kaladir war zu gefährlich geworden und ich wollte die Gutmütigkeit der Assassinen nicht noch weiter auf die Probe stellen."

"Ich danke dir", wiederholte Faye mit einem aufatmen und ein großer Stein fiel von ihrem Herzen, einer, von dem sie nicht gewusst hatte, dass er existiert hatte. "Cassian ist vertrauenswürdig. Ich kann dir nicht alles erzählen, aber ich würde ihm mein Leben anvertrauen, gleich, wer ihn bedroht. Und er hat das Herz am rechten Fleck."
Die ganze Sache begann, einen roten Faden zu entwickeln, einen, der Emerson nicht gefallen würde und sie haderte mit sich, wie sie es ihm beibringen konnte. Aber möglicherweise war es Lyra, die in diesem Punkt noch einmal helfen konnte. "Es gibt eine Sache. Emersons Auftrag sieht etwas anderes als das vor ... etwas ganz anderes. Er wird den Auftrag ausführen müssen, um die Bruderschaft in Sicherheit zu halten, denn so wie ich Septim kenne, wird er keinen Millimeter weichen. Aber er ... es ..." Sie schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen, weil es ihr so schwer fiel, dieses eher interne Problem anzusprechen. "Hieronim hat mein Phylakterium. Er nutzt es als Druckmittel."

"Effektiv habe ich dein Phylakterium, nachdem es Hieronim an mich weitergegeben hat und ich kann dir versichern mehr als eure Spur zu verfolgen habe ich damit nicht getan und werde es auch nicht tun", erwiderte Lyra lediglich beiläufig und wank ab.
"Er weiß, wie gefährlich es ist, es sich mit den Assassinen zu verscherzen und diese Bruderschaft weiß, dass sie nicht von Luft und Liebe leben können. Ich hoffe darauf, dass wir eine gemeinsame Einigung finden werden. Ich hätte sie nämlich gern auf unserer Seite, wenn wir beginnen gegen die Kirche vorzugehen, einfach um ihnen mehr entgegen zu setzen als ein paar Magier, die sie negieren können. Dafür musst du aber deinen Freund bearbeiten, um sich darauf einzulassen. Es ist viel verlangt, das weiß ich, aber wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können."

"Vermutlich reicht es nicht, wenn nur ich mit ihm spreche", gab Faye zurück und biss sich auf die Lippe. "Was mein Phylakterium angeht, Lyra - vernichte es. Sobald du zurück bist. Bei all dem kann ich nicht riskieren, wieder zu einer Geisel von irgendjemandem zu werden. Nicht des Königs, nicht der Templer und nicht der Zirkel."

"Ich fülle es einfach mit dem Blut eines Tieres aus dieser Stadt. Wenn die Templer etwas jagen wollen, dann lass es ein Schwein sein. Damit wissen sie wenigstens, was wir von ihnen halten."

"Das klingt schon eher nach einem Plan. Versprich es mir", beharrte sie dennoch und streckte ihre Hand aus. Das war zumindest in ihrem Kopf haltbarer als pure Worte.