Kapitel 1

Das Telefon klingelte und weckte Callum Williams.
Das tat es öfter und Callum hätte sich kaum etwas ungewöhnliches dabei gedacht, wenn er nicht zufällig auf die Uhr gesehen hätte. Das er im Vollsuff irgendwann am späten Nachmittag von dem Telefon geweckt wurde geschah mindestens einmal im Monat. Er hasste es, aber die Regelmäßigkeit gab ihm Sicherheit. Doch als er dieses Mal auf das Display starrte musste er feststellen, dass es beinahe noch mitten in der Nacht war. 03:37.
"Scheiße" knurrte Callum und griff nach dem Telefon, hielt es sich ans Ohr, krächzte ein: "Was?" er lauschte. "Ich... ich komme..." erklärte er schließlich und legte auf. "Scheiße", wiederholte er. Schwankend erhob er sich, griff nach seiner Handprotheste und streifte sich diese über das gräuliche Fleisch, warf sich einen Regenmantel über und stolperte aus der Wohnung.

~*~

"Das Opfer ist 28 Jahre alt", erklärte der dünne Mann in dem weißen Kittel, während Callum auf die Regenplane starrte, die um den Leichnam gewickelt worden war. So hatte man sie gefunden. Das Gesicht offen gelegt, die halbdurchsichtige Regenplane um ihren nackten Körper geschlungen. "Die Fingerabdrücke ergaben einen Treffer: MacKenzie Crawford. Sie studiert Kunst an der nahen Hochschule," Callum nickte, doch er konnte seinen Blick nicht von dem Leichnam lösen. Sie war blass, beinahe bläulich. "Wir nehmen an, dass die Flut sie an Land gespült hat. Den Todeszeitpunkt konnten wir noch nicht genau ermitteln, aber dem Zustand der Leiche nach zu Urteilen ist sie keine 24 Stunden tot." Callum nickte langsam und zündete sich eine Zigarette an, gab dann jedoch auf, der aufkommende Regen und das Salzwasser in der Luft hatten den Tabak zu sehr angefeuchtet. "Hat sie Verwandte?" - "Ja, eine Schwester. Wir haben sie bereits kontaktiert. Schauen Sie," der dünne Mann deutete zu dem Leichnahm. "Wir haben die Leiche noch nicht aus der Regenplane ausgepackt, aber es sieht beinahe so aus, als hätte jemand einen chirugischen Einschnitt getan. Hier, einmal über den Unterleib!" Callum nickte. "Das soll die Gerichtsmedizin sich nachher ansehen. Ich hab sowas schon mal gesehen. Womöglich hat sich da jemand ein Souvenir mitgenommen..."

Ihre Schicht hätte eigentlich bald enden sollen, so aber war sie gerufen worden, knapp bevor sie eigentlich hätte nach Hause gehen und in ihr Bett fallen können. Charlie Burton seufzte, als sie den Dienstwagen zu dem Ort steuerte, an den sie gerufen worden war und ihn dann abstellte. Der Vollmond war hinter Wolken versteckt und der Regen begann gerade dann an Fahrt aufzunehmen, als sie die Tür hinter sich zuschlug und mit dem Schlüssel verriegelte. Alte Polizeiwagen ... man konnte sie lieben oder hassen. Charlie entschied sich dafür, sich nicht zu entscheiden und sparte sich die Kapuze auf dem Kopf. Sie wäre nutzlos, denn sobald die feuchte Luft hier auf ihre Haare traf, waren sie ein Wirrwarr aus roten Locken.
Dann besann sie sich auf den unschöneren Teil ihrer Arbeit, die bis vor wenigen Minuten aus den üblichen, harmlosen Einsätzen bestanden hatte. Diebstahl, Drogen, hin und wieder eine Schlägerei in der Bar. Sie wusste nur, dass dort vorne die Leiche einer jungen Frau auf sie wartete und wenn sie viel Glück hatte, kannte sie sie nicht. Sie waren fast ein Dorf mit ihren kaum über 200 Seelen, die es bevölkerten und jeder kannte jeden. Bis vor einer Stunde war jedenfalls niemand als vermisst gemeldet worden und das gab Hoffnung.
"Morgen Pete", grüßte sie und nickte dem Mann im Kittel zu, dann sah sie zu dem anderen Mann hin, musterte ihn, konnte ihn aber nicht einordnen. "Und Sie sind?"

Callum drehte sich um, als die Stimme der jungen Frau an sein Ohr drang und blinzelte für einen kurzen Augenblick, ehe er die andere von oben bis unten betrachtete. "Die Kavallerie Rotschopf," erwiderte er und kratzte sich am Drei-Tage-Bart. "Callum Williams. Morddezernat Detroit. Also früher mal. Wurde hierher versetzt und habe eigentlich gedacht ich würde die nächsten Jahre bis zur Rente wenig mehr als Hühnerdiebstähle aufklären..." er seufzte und sah zu der Leiche. "Ich nehme an Sie sind von der örtlichen Polizei? Ich sollte morgen hier offiziell anfangen. Also..." er sah auf die Uhr. "Das heißt heute."

"Callum Williams", echote Charlie, unterdrückte nur mit Mühe ein weiteres Seufzen, das man diesmal definitiv gehört hätte und besah ihn sich genauer. "Das Bild in der Akte war wohl aus besseren Zeiten vor der Aussortierung, was?"

"Hm.." meinte er und betrachtete die andere. "Irgendwie kommen Sie mir aber auch bekannt vor - waren sie früher mal Camgirl?"

Grinsend zwinkerte sie ihm zu, anstatt wie viele andere in diesem Moment in die Luft zu gehen. "Nur um meine Ausbildung zu finanzieren, versteht sich. Meine Eltern konnten mir nicht den Arsch voll Geld pumpen wie Ihnen. Schade, dass es nur für Pornos gereicht hat und nicht für bezahlten Sex, was?" Akteneinsichten waren etwas tolles, beschied sie und sah dann hinüber zu Pete, sich einfach vor Callum stellend, weil er sie um fast einen Kopf überragte. Ihre Daumen hatte sie in ihren Gürtel gesteckt und ließ die Hände von dort aus locker baumeln, was Callum durch ihre Ellenbogen noch weiter nach hinten trieb. "Leg los, Pete."

"Ich erinnere mich..." grummelte er. "Ihnen hat man den Arsch mit was anderem vollgepumpt," dann jedoch wandte auch er sich an Pete, der noch immer nervös vom einen zum anderen sah. "Also nun.... wie bereits gesagt das Opfer ist MacKenzie Crawford. Sie studiert Kunst an der nahen Hochschule und hat eine Schwester in der Stadt. Diese haben wir bereits informiert. Sie ist seit wohl etwa 24 Stunden tot, die Todesursache steht noch nicht genau fest und sie wurde hier von der Flut angespült."

"MacKenzie Crawford - die Schwester von Maddison?", hakte Charlie nach und verzog das Gesicht. Das hier hatte innerhalb von ein paar Sekunden Geplänkel eine unschöne Tendenz hin zu Chaos genommen. Sie kannte die beiden, war oft genug von Maddison in die Bar gerufen worden, wenn es dort wieder eine Schlägerei gegeben hatte und hin und wieder bekam sie für die schnelle Erledigung ein Bier spendiert. "Verdammte Scheiße. Hast du einen Verdacht?" Sie trat näher an die Plane heran, wartete aber, bis sie von den zwei Männern wenigstens ein Stück weit zurückgeklappt wurde. Das Gesicht war fahl und aufgedunsen, bläulich und die Lippen schrumpelig, doch ganz eindeutig lag hier MacKenzie vor ihr. Armes Mädchen.

"Was ist das denn für eine Polizeiarbeit?" schnaubte Callum. "Wir sind gerade erst am Tatort angekommen und wissen noch nix und jetzt sollen Verdächtigungne ausgesprochen werden? Dann sind wir doch komplett festgefahren! Fangen sie so auch ihre Hühnerdiebe?"

"Wir sind hier nicht in der Großstadt, Williams", erwiderte Charlie ruhig. "Hier ticken die Uhren anders, hier arbeiten wir enger zusammen. Jeder kennt jeden, das verändert Dinge. Wenn Ihnen das nicht passt - bitte. Ich bin gerne bereit eine Stellungnahme zu schreiben, warum Sie hier nicht arbeiten wollen. Aber das hier" sie deutete mit einer Ausholenden Geste vom Meer, über den Strand (samt Leiche) bis hin zu den Lichtern der kleinen Ansammlung von Häusern "ist mein Gebiet und entweder Sie halten sich an die Spielregeln oder Sie packen Ihren Koffer gar nicht erst aus und hauen ab. Verstanden?"

"Wie sie meinen, ist ihr Sandkasten" erwiderte Callum schulterzuckend, blinzelte dann, als er von den Dünen Lichter sah. "Da kommt noch ein Auto..." stellte er fest.

Maddisons Polo. Die alte Klapperkiste würde es nicht mehr lange machen, fürchtete Charlie, als die Bremsen quietschten und das Auto zum Halten brachten. Der Kies spritzte dabei ein paar Meter weiter, doch wer die Nachricht erhalten hatte, eine Leiche zu identifizieren, den interessierte es nicht, wie man hielt oder wo und gar wie.
"Ja, mein Sandkasten", erwiderte Charlie warnend und wandte sich von den beiden ab. "Seht zu, dass alles verdeckt ist, was zu noch mehr Drama führt." Dann ging sie los hinüber zu Maddison, die gerade aus dem Auto hechtete.

Der Anruf war mitten in der Nacht gekommen.
Bereits als Madison abends ins Bett gegangen war, ohne dass MacKenzie auf ihre Nachricht reagiert hatte, hatte sie ein seltsames Gefühl beschlichen. Irgendetwas hatte nicht gestimmt und dann hatte die Polizei in der Nacht angerufen, um ihr zu sagen, dass MacKenzie tot war. Ermordet. Mehr hatte sie gar nicht realisiert als sie taub das Gespräch beendet hatte, nur um zu ihrem Wagen zu hasten - noch halb in den Schlafsachen, die Haare wirr durcheinander und tiefe Ringe unter den Augen, von denen sie nicht genau wusste, ob sie vom Weinen gekommen waren oder von den wenigen Stunden Schlaf. Sie sah Charlie Gesicht - die Menschen, die um einen Sack umher liefen, Fotos machten und sich miteinander unterhielten. MacKenzie ...
Madison begann zu rennen, die Fahrertür offen lassend, nicht einmal daran denkend sich die Kapuze aufzuziehen während sie Meter um Meter hinter sich brachte, im Sand immer wieder einsank und ins Stolpern geriet. Sie konnte nicht tot sein ... sie durfte nicht tot sein. Jemand hielt sie fest, hielt sie davon ab näher zu dem Sack zu kommen, der ihre Zwillingsschwester sein sollte und sie hörte sich selbst brüllen und weinen.

Es tat beinahe körperlich weh, als Madison mit ihr kollidierte und Charlie stemmte sich mit aller Kraft in den Boden, wurde beinahe comichaft ein wenig im Sand nach hinten verschoben und Körner rieselten in ihre Schuhe. Die Luft kehrte er nach ein paar heftigen Atemzügen in ihre Lungen zurück. Der Schlagabtausch eben war nur Dampf ablassen, innerliches vorbereiten darauf, dass niemand außer Callum Williams den nötigen Abstand in dieser Sache hatte und es nicht besser werden würde, sobald die Angehörigen informiert waren ... so wie jetzt.
"Madison - hör mir zu", beschwor sie die Jüngere, sich nicht beirrend lassend, wie sie schrie und tobte. Sie wich gerade noch einem nicht sehr gezielten Schlag aus und lehnte sich nach hinten, dann packte sie die Jüngere auch noch um die Arme herum und hielt sie fest. "Hör zu! Du kannst zu ihr - aber du kannst sie nicht berühren. Verstehst du? Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um das hier aufzuklären und ich weiß, das bringt sie nicht wieder. Nichts davon macht es ungeschehen. Aber es gibt ein paar Regeln, die wir einhalten müssen oder ich kann dich ab hier nicht weiter lassen."

Callum besah sich das Schauspiel, welches die beiden Damen da veranstalteten mit Sorge und Missgunst. Sie würde es sich selbst nur noch schwerer machen als ohnehin schon - und ihrer Arbeit im Allgemeinen sowieso. Er warf einen kurzen Blick zu dem weißen Männlein. "Pete, richtig?" hakte er nach und der angesprochene nickte. "Holen Sie Absperrband, ich will nicht, dass die Zivilistin hier alles ruiniert!" dann strich er seinen Mantel glatt und ging zu den anderen beiden. "Misses Crawford, mein Name ist Inspector Callum Williams. Ich bin für ihren Fall zuständig. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen."

Ihr Widerstand blieb noch eine Weile lang aufrecht, während Charlie irgendetwas sagte, das nicht so recht an ihren Verstand herankommen wollte. Alles war nur in dumpfe Watte gehüllt während sie ihre eigene Kraft verließ und sie kraftlos im Sand hocken blieb, die Hände vor den Augen, ohne darauf zu achten, dass sie damit auch zeitgleich einige Sandkörner in ihre Augen rieb, die sie nur noch mehr zum Weinen brachten.
"Miss ...", schluchzte sie schließlich, weil es absurderweise das Einzige war, worauf sie sich gerade fixieren konnte. Nicht verheiratet ... MacKenzie war diejenige, die ihr Leben durchgeplant hatte - die mit ihrem Partner bereits seit Jahren zusammen war und die plante ihn zu heiraten, Kinder zu bekommen und von hier in eine größere Stadt zu ziehen. MacKenzie ... schluchzend stolperten Madisons Gedanken wieder über ihre Zwillingsschwester. Sie hatten sich doch gestern erst unterhalten ... da war sie lachend weggefahren und hatte versprochen sich zu melden. "... was ist passiert ...?", fragte sie schließlich nach einer ganzen Weile. "... wer hat meiner Schwester das angetan ...?"

"Wir wissen es noch nicht, aber die Obduktion wird uns mehr verraten. Es tut mir so Leid, Madison", antwortete Charlie und ging vor der anderen in die Hocke, eine Hand auf ihrem Knie. "Sie wurde hier angespült, mehr können wir nicht sagen. Noch nicht. Aber glaube mir, das wird nicht ungestraft bleiben."

"Was meine Partnerin sagt," stimmte Callum zu. "Die Aufklärungsrate für Mord liegt bei über 90 Prozent - wir werden den Mörder ihrer Schwester finden!" er nickte ihr in einer Art und Weise zu, die er als aufmunternd empfand. "Wollen Sie etwas heißes zu trinken haben? Kaffee vielleicht?" hakte er leise nach und verschränkte die Arme vor der Brust. "Danach kann sie einer meiner Kollegen aufs Revier fahren - dort hätten wir einige Fragen."

"Ich will sie sehen ...", verlangte Madison, weil sie ihre Schwester sehen wollte - sich vergewissern wollte, dass sie wirklich fort war. Dass MacKenzie nicht zurückkommen würde und nicht, dass es nur ein blöder Scherz war, wie sie ihn manchmal gemacht hatten als sie klein gewesen waren.

"Dann komm mit", erwiderte Charlie und zog die Jüngere auf die Füße. Inzwischen war sie komplett durchnässt, weil der Regen immer mehr zunahm. Das gelb-schwarze Band flatterte im Wind und ließ sich nur bändigen, als sie es fest griff und nach oben hob, Madison darunter hindurch schiebend, aber ihren Ärmel nicht loslassend, um sie rechtzeitig bremsen zu können. Ein paar Minuten, dann musste sie sie ins Warme bringen, sonst holte sie sich in ihren dünnen Schlafsachen noch den Tod. Vermutlich war ihr nicht einmal aufgefallen, dass sie noch ein T-Shirt mit einem Schlumpfaufdruck trug.

Es war MacKenzie.
Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Hammerschlags während sie zitternd auf das Gesicht ihrer Zwillingsschwester starrte, das genauso aussah wie das ihre. Sie waren eineiige Zwillinge, hatten denselben Geschmack gehabt und wann immer der einen etwas unangenehm war, hatte es die andere übernommen - das ging von Prüfungen am College, die Madison für MacKenzie geschrieben hatte bis hin zu dem Schlussmachen, das MacKenzie für Madison übernommen hatte. Sie hatten alles zusammen gemacht, waren nur dann getrennt, wenn MacKenzie im College gewesen war. Jetzt darüber nachzudenken, dass ihre Schwester nicht mehr bei ihr sein würde, brach ihr das Herz.
Sie sah aus, als würde sie nur schlafen. Als würde sie gleich wieder die Augen aufmachen und lachen. Dann wurde Madison wieder klar, dass sie nie wieder die Augen aufmachen würde. Sie hatte sich nicht einmal verabschieden können ...

Callum ließ der anderen etwas Zeit, wenngleich sein Blick auch düster zu seiner Kollegin wanderte. Was dachte sich diese eigentlich? Hier einfach eine Zivilistin durch all das stampfen zu lassen. Wenn Sie sich verabschieden wollte war dafür nachher genug Zeit - wenn die Leiche frisch gemacht war und in einem Sarg lag. Soetwas sollte niemand sehen müssen. Dieser Akt der Güte würde tiefe Narben hinterlassen. Er wusste das, doch die andere offensichtlich nicht. "Miss Crawford. Sie sollten sich etwas warmes anziehen. Irgendwo hin wo es trocken ist. Wir werden den Mörder ihrer Schwester schnappen. Das schwöre ich ihnen"

"Sie sollten keine voreiligen Versprechen abgeben, die Sie nicht halten können, Williams", zischte Charlie ihm zu, nur für seine Ohren hörbar. Beruhigen, versichern - aber niemals versprechen. Lernten diese Stadttypen denn gar nichts in der Ausbildung? Dann aber beugte sie sich zu Madison hinunter und zog sie sanft auf die Füße. "Vertrau uns. Pete kümmert sich um deine Schwester. Und du kommst mit mir ... wir müssen dich in warme Sachen stecken, damit hat Inspector Williams gar nicht so unrecht." Sie ließ den Zusatz unerwähnt, ihr auch einige Fragen stellen zu müssen.

Betäubt und taumelnd folgte Madison der Älteren bis hin zu dem Dienstwagen, mit dem Charlie gekommen war. Beiläufig schlug sie die Fahrertür ihres eigenen kleinen Wagens zu und schloss ihn ab - es waren so routinierte Bewegungen, so vollkommen selbstverständlich, dass Madison gar nicht mehr darüber nachdachte. Die Fotoausrüstung ... sie war so teuer gewesen. Dann wieder kam es ihr falsch vor darüber nachzudenken und erneut begann sie die Zähne in die Unterlippe zu graben, auch wenn das nicht dabei half, die eigenen Tränen aufzuhalten, die ihr noch immer über die Wangen liefen und das Schluchzen begleiteten, das ihr inzwischen Kopfschmerzen verursachte.
Nass ... erst auf der Rückbank von Charlies Dienstwagen fiel ihr auf, dass ihre ganzen Hände nass waren und das Shirt an ihrem eigenen Körper klebte. Es regnete ... auch das bemerkte sie erst wirklich, als sie den Blick jetzt zu der Scheibe lenkte, an der die Wassertropfen hinab liefen.

Charlie war im Begriff, den Wagen zu starten, als ihr Blick im Rückspiegel auf Madison fiel. Sie ließ die Hand vom Schlüssel sinken, streckte sich nach hinten und schob die Decke zu der Jüngeren hinüber. "Hier, das hält dich warm, bis wir auf dem Revier sind. Und schnall dich an." Sie klang wie eine überfürsorgliche Mutter, aber Madison wirkte so verloren ... und Charlie wusste, dass ihre Eltern erst in den Morgenstunden ankommen würden, sie hatte einmal erwähnt, sie lebten in Spokane. Manchmal hatte das Kleinstadtleben auch seine Nachteile. Stadt ... Charlie schüttelte den Kopf. Wem machte sie etwas vor? Es war ein Dorf am Arsch der Welt, aber es war ihr Dorf und sie liebte es und die Menschen hier.

~*~

Die Fahrt war nicht lang, vielleicht zehn Minuten und Charlie war kaum aus dem Wagen, da bog schon Williams hinter ihr auf den Parkplatz ein. Abwehrend hob sie eine Hand, weil der Scheinwerfer blendete, bis er ihn ausstellte. "Hier" Sie warnte ihn nicht weiter vor sondern warf ihm den Schlüssel entgegen. "Sperr auf, ich bringe Madison mit."