Kapitel 1

Der Exfreund, ja, der war Charlie auch schon durch den Kopf geschossen. Er klang einleuchtender als eine Verwechslung, selbst bei eineiigen Zwillingen, wenn es überhaupt jemand aus dem näheren Umfeld war. Da Charlie Williams das weiter ausführen lassen wollte, schnappte sich nur ihre Tasse und setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtisches. "Aha?" Ihr entging nicht, wie missmutig er durch die Gegend sah und der Kommentar blieb nicht ungehört, jedoch unkommentiert.

"Der Exfreund hat einen großen Hass auf die Kleine - und er sieht, wie die beiden zum Anwalt gehen. Er hat Angst, dass er sie für immer verlieren wird, weil sie fortan nicht mehr für ihn erreichbar sein wird. Sobald die einstweilige Verfügung besitzt er sie nicht mehr. Also beschließt er, wenn er sie nicht haben kann, dann soll niemand sie haben. Er sieht, wie sie ihre Wohnung verlässt, fährt ihr nach und ermordert sie - ohne zu Ahnen, dass er die Zwillingsschwester umgebracht hat."

"Mh - könnte er im Affekt übersehen haben, aber würden sie übersehen, dass Sie jemanden umbringen, den sie eigentlich von oben bis unten kennen? Sie waren schließlich lange Zeit zusammen, da kann man auch Zwillinge auseinanderhalten. Spätestens bei seiner Schnitzerei an ihr müsste es ihm aufgefallen sein. Natürlich möglich, dass sie dann längst tot war. Aber ganz überzeugt bin ich nicht."

"Sagte die Schwester nicht, dass sie öfter mal Rollen getauscht hätten?" fragte er nach und schüttelte den Kopf. "Ich glaube wir sollten ihn so oder so einmal befragen. Und wenn du mich fragst könnten wir den Fall sogar schnell eintüten, wenn wir ihn direkt überführen - wir nutzen Madison als Köder. Er wird glauben sie sei tot und wenn sie vor seiner Tür auftaucht sehen wir seine Reaktion und können ihn einbuchten."

"Ich weiß nicht, ob du ihr das wirklich antun willst", gab Charlie zu bedenken. "Es könnte sie überfordern."

"Dass der Mörder ihrer Schwester frei rumrennt auch," erwiderte Callum. "Es ist die beste Möglichkeit, oder streitest du das ab?"

"Ich will lediglich, dass die Leute nicht nur als Auftrag betrachtet werden. Wir sind ein kleiner Ort und jeder kennt jeden, das kann für einen typischen Großstädter durchaus hinterwäldlerisch wirken, aber ich kenne Madison seit sie ein kleines Mädchen war. Sie wäre mit Sicherheit bereit, etwas derartiges zu tun, aber vorher will ich abwarten, was Pete uns an Informationen liefern kann. Vielleicht gibt es DNA, die er verwerten kann und wir können ihr das ersparen. Ich will diesen Kerl fangen, Williams, daran besteht kein Zweifel."

"Mhm," erwiderte Williams kopfschüttelnd und griff dann nach einigen Akten. "Dann erzähl mir mal was über diese kleine Stadt, die so hinterwäldlerisch ist!"

Stutzend legte Charlie den Kopf schief. "Wie lange wissen Sie schon davon, dass Sie hierher versetzt werden?", stellte sie die Gegenfrage. "Was ist das für ein Verhalten für einen Inspector, sich vorher nicht zu erkundingen?"

"Man lernt immer am besten von den Einheimischen Urvölkern", erwiderte Callum und ließ sich schwer auf einen der Stühle plumpsen, kratzte sich an der Glatze und betrachtete die andere skeptisch. "Sind sie eigentlich immer so verdammt mürrisch?"

"Mürrisch?", lachte Charlie auf und zog die Augenbrauen hoch, dann musterte sie ihn von oben bis unten. "Hey, Mister, Sie kamen gestern hier an und stellen seitdem alles und jeden - insbesondere mich - in Frage. Und das nicht gerade hinter vorgehaltener Hand und unter Alkoholeinfluss. Was - wie ich Ihnen nicht sagen muss - in unserem Job verboten ist. Sie hätten Bescheid geben müssen, dass Sie nicht arbeiten können, wenn es vor Ihrer offiziellen Antrittszeit war. Was Sie verfehlt haben und was mich trotzdem noch nicht dazu bewogen hat, einen Verweis in Ihre Akte zu setzen und Ihrem Chef mitzuteilen, weil ich glaube, dass jeder eine Chance verdient hat. Wenn es aber rauskommt, riskiere ich gerade meinen Job für sie; also reden wir nochmal über mürrisch."

Callum sah die andere eine ganze Weile aus blutunterlaufenen Augen an. "Meine Probleme sind meine Angelegenheit," erwiderte er leise und düster. "Ich mache meinen Job gut - ich sorge dafür dass der Dreckskerl der das getan hat hinter Gitter kommt. Ich bin voll einsatzfähig..." grummelte er und schüttelte den Kopf. "Aber gut. Ich werde mich selbst durch Archive und Lokalzeitungen kämpfen. Habs verstanden. Also, was tun wir als nächstes? Bis auf Pete zu warten?"

"Oh wow. Sie sind echt ein Arschloch, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt? Sie werden zusehen, dass Sie in Zukunft nüchtern sind, kapiert? Bei der nächsten Verfehlung findet es den Weg in die Akten und Sie den Weg hier heraus. Dann brauchen Sie sich nicht mehr bemühen, den Ort und die Menschen kennen zu lernen. Das Gefühl, dass Sie hier überhaupt nicht sein wollen beschleicht mich gerade ein wenig - warum nur?" Sie knallte ihm einen Ordner vor die Nase, der noch größtenteils leer war. Der Bericht vom gestrigen Abend fand sich darin, zudem die Kontaktdaten der Personen, die Madison aufgezählt hatte und von denen Charlie von MacKenzie wusste. "Wir können das hier auf die nette oder die beschissene Art machen. Ihre Wahl, aber die Arbeit wird erledigt."

Callum sah auf, sah der Frau tief in die Augen und ein dunkles Glimmen wurde dort sichtbar. "Ja Chef," knurrte er, packte sich die Akten und warf diese in eine Tasche. "Ich such jetzt noch mal das Mädchen auf. Diese Madison. Ich habe noch Fragen - und wenn ihre Eltern da sein sollten auch an die. Irgendwas stimmt hier nicht."

"Dokumentiere es!", rief sie ihm hinterher, dann warf sie die Hände in die Luft und starrte ihm hinterher, den Kopf schüttelnd und tief seufzend. "Japp - genau das, was ich hier gebraucht habe. Nützlich, arbeitsam, kollegial", murmelte sie zu sich selbst, dann wandte sie sich dem Stapel an Papieren zu, der auf ihrem Schreibtisch lag. Ein Mord klärte sich vielleicht durch seine Mithilfe auf, aber der Papierkram würde wohl hängen bleiben, wenn sie ihn nicht in seine Schranken wies.

Quietschend kamen die Reifen vor dem Apartement der jungen Dame zum stehen. Er stieg aus dem Wagen aus, knallte die Tür zu und erneut fiel die Kappe des Seitenspiegels ab. Er fluchte, sah auf das nunmehr zersplitterte Glas des Spiegels und ließ die Schultern hängen. Mit weiten Schritten stapfte er zu der Tür, war kurz davor dagegen zu hämmern, ehe ihm einfiel dass er hier nicht in das Haus eines Mordverdächtigen oder von einigen Junkies zutritt verlange. Er drückte die Klingel.

Madison hob nur müde den Kopf von ihrer Couch hinauf und wusste für einen kurzen Moment lang nicht, ob sie überhaupt aufstehen sollte. Ihre Schwester würde nicht vor ihrer Tür stehen und sie hörte das leise Gespräch ihrer Eltern, die sie seit den Morgenstunden nicht mehr allein gelassen hatten. Sie hörte ihre Mutter wieder weinen, ihren Vater beruhigend auf sie einreden und erschöpft vom Weinen und den letzten Stunden schob Madison sich nach einer halben Ewigkeit von der Couch runter. Die Teetasse zitterte in ihrer Hand als sie sich auf Socken hinüber zur Tür bewegte, um sie zu öffnen.
"Officer", begrüßte sie den anderen lediglich knapp und setzte einen Schritt in die Wohnung hinein, um den Älteren hinein zu lassen.

Der Angesprochene betrachtete die junge Frau von oben bis unten. Armes Mädchen. "Ich hoffe ich störe nicht," entschuldigte er sich, noch während er eintrat und sich in dem Appartement umsah - zuerst fragte er sich, ob mit der jungen Frau vielleicht nicht doch etwas nicht stimmte, dass sie sich solch eine große Wohnung leisten konnte, doch dann schallte er sich einen Narren. Sie waren auf dem Land. Für das gleiche Geld bekam man in Detroit wohl kaum mehr als ein Mikro-Apartement.
"Ich habe noch einige Fragen zu gestern Abend."

"In Ordnung", machte Madison lediglich und ließ sich wieder auf die Couch fallen, die Teetasse auf dem Tisch abstellend und die Beine zu sich heranziehend. Beiläufig wies sie auf einen der Sessel hier, auf denen noch einige ihrer nassen Sachen lagen, die sie bislang nicht weggeräumt hatte, weil ihr dazu die Kraft fehlte. "Schieben Sie's einfach bei Seite."

Callum nickte, schob die Sachen bei Seite und ließ sich auf das durchgeweichte Kissen sinken, versuchte dabei keinen Laut von sich zu geben, der andeutete, dass ihm dies nun wirklich nicht behagte. Ein nasser Hintern. Es gab wenig schlimmeres. "Danke. Nun, noch einmal mein Beileid. Ich bin mir bewusst wie schwer diese Situation aktuell für sie und ihre Familie ist. Jemanden zu verlieren ist niemals leicht - und dann noch auf so eine Art..." er verstummte. "Ich muss ihnen jetzt eine Frage stellen, die ihnen vielleicht seltsam vorkommt. Haben Sie schon einmal etwas vom Sunrise Murderer gehört? Hat ihre Schwester vielleicht über sowas gesprochen?"

Madison schüttelte den Kopf. "Nein ... MacKenzie und ich haben uns nie für so etwas interessiert. Wir haben mal ein paar Nachrichten während des Essens gesehen ... warum sollte man sich für Mörder interessieren?"

"Nein, Sie haben Recht - man muss sich nicht für Mörder interessieren. Es hätte mich nur interessiert, weil es einige Parallelen zu diesem Fall hier gibt. Aber nichts was jetzt schon spruchreif wäre. Wir warten aktuell noch die letzten Untersuchungen ab. Wenn wir die Ergebnisse haben wissen wir mehr."

"... warum sind Sie dann hier ...?", hakte Madison nach und schluckte, weil sie nicht begriff, weshalb er hierher gekommen war, nur um ihr eine solche Frage zu stellen. Parallelen ... vielleicht hätte sie doch etwas vorher tun sollen. Vielleicht sich vorher informieren sollen, vorsichtiger sein sollen, wenn es jemanden gab, der andere nach einem Muster umbrachte. Das hier war Oceancity - hier war nie etwas geschehen. Es gab hier keine Mörder. "...sie hätten auch anrufen können ..."

"Das kam mir arg unpersönlich vor," erwiderte er und stand auf, ging durch den großen Raum und besah sich einige Bilder. Selfies. Bilder von Stillleben. Familienfotos. Ein Hund.
"Sie sind Fotografin, richtig?" hakte er leise nach und hob ein Bild an, betrachtete dieses. "Dann hat man doch bestimmt ein Auge für Details."

Madison nickte langsam, wandte den Blick hinüber zu dem älteren Polizisten. "Ja ... schon", stimmte sie leise zu. "Warum?"