Kapitel 1

"Du bist wirklich ein Geschenk!" Charlie nahm die Tasse entgegen und legte ihre Finger um das Holz, das binnen weniger Sekunden warm wurde. Nicht so heiß wie eine Tasse, aber genug, um ihre kühlen Finger daran aufzuwärmen. "Es tut mir Leid, dass du sie gefunden hast - andererseits ... lieber einer von uns, als jemand von außerhalb. Wir müssen keine Suchtrupps losschicken und Gott weiß wo nachhaken, ob man sie gesehen hat und mit der Ungewissheit leben, wie es ihr geht." Einfacher machte es das nicht, aber ihr Kopf konnte besser damit loslassen.

"Das ja aber ... ach was solls, bringt ja nichts weiter darüber zu jammern. Das wird schon wieder, vielleicht", er schnaufte laut und ließ sich ein Stück zurücksinken, während er weiter auf die wogende See starrte. "Nutze ich die Tage um mein Hausboot ein wenig floot zu machen und es wieder ein wenig zu bewegen, das letzte mal das ich es bewegt habe ist gut sechs Monate her. Wie ... Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Irgendwelche Pläne fürs Wochenende?"

"Außer mich zu beherrschen, meinem neuen Kollegen - Inspector Callum Williams - nicht den heißen Kaffee überzuschütten? Abgesehen davon nicht." Sie sah eine Weile auf das Meer hinaus, sog tief die salzige Luft ein, die ihr entgegen wehte und wusste, was er fragte, ohne es auszusprechen. "Du machst das Boot fit und wir sehen uns Samstag Mittag? Und ... jetzt müssen wir zum unangenehmen Teil kommen. Ich muss dir ein paar Fragen stellen."

Ein erneutes Schnaufen, diesmal wesentlich lauter. "Ablenkung hat also nicht funktioniert?" Fragte er und sah kurz zu Charlie hinüber, die mit einem Mal erstaunlich professionell wirkte. "Ja, ja ist schon gut Officer. Also was brauchst du? Ich hab an dem Tag mit niemandem vorher geredet außer mit Brutus. Danach bin ich los, hab das Motorboot losgemacht und habe bemerkt das irgendetwas sich am vorderen Teil des Bootes verkeilt hatte. Da es noch dunkel war und ich ohnehinn die Fischerhose anhatte, bin ich ins Wasser und hab geschaut was da ist und - naja, den Rest kannst du dir ja denken."

"Denkst du, jemand hat sich am Boot zu schaffen gemacht? Wie sehr verkeilt ist verkeilt? Und wie genau hast du sie gefunden? Du weißt, ich tue das nicht gerne, aber ich brauche Details. Alles, was du mir geben kannst, führt vielleicht dazu, diesen Bastard schneller zu finden und hinter Gitter zu bringen."

"Ich denke nicht das die Leiche drapiert wurde - sie ist einfach von den Wellen so gegen das Boot geschlagen worden, dass ein wegkommen nicht mehr möglich war. Und was genau an Wunden zu sehen war weiß ich um ehrlich zu sein nicht - es war dunkel und überall war Blut, sodas man kaum etwas gesehen hat. Kann gut sein das sie auch einige Wunden durch die Muscheln an den Stegen bekommen hat, ich meine" er öffnete seine Hand und eine breite, tiefe Schnittwunde kam zum Vorschein. "Das hier war nur ein kleiner Ausrutscher heute morgen als ich mich festhalten wollte, überleg mal welche Kraft das hat wenn man mit der Kraft einer Welle dagegen geschlagen wird."

Charlie besah sich den Schnitt, indem sie seine Hand sanft zu sich zog. Er hatte es mit irgendetwas behandelt, was sehr kräuterig roch, aber darüber machte sie sich schon seit langem keine Gedanken mehr, denn meistens half es und er musste nur sehr selten auf Medizin im herkömmlichen Sinne zurückgreifen. "Ist dir noch irgendetwas aufgefallen? Leute in der Gegend, die nicht von hier sind oder hast du MacKenzie vielleicht sogar die letzten Tage gesehen?"

Er ging eine Weile in sich und grübelte, schüttelte dann jedoch Kopf. "Nein, niemanden. Wie gesagt es war recht dunkel, außer ... Nein, nein dass kann nicht gewesen sein." Er schüttelte wiederholt den Kopf.

"Außer was?", bohrte Charlie nach und setzte sich etwas aufrechter hin.

"Ich hab einen Schatten gesehen als ich an dem Morgen aus der Tür bin. Bestimmt drei Meter hoch und ... flackernd. Brutus ist beinahe ausgerastet und hat sich gar nicht mehr einbekommen, aber ... das war mit Sicherheit nur irgend ein Flugzeug das eine lange Schattenbahn geworfen hat oder ... irgendsowas halt."

"Ein Schatten?", echote Charlie dumpf und starrte auf das Meer hinaus, dann eine Weile hinüber zu Robert, der mit keiner Faser andeutete, dies wäre eine Lüge. "... Flugzeug ... bestimmt." Charlie nickte und stand dann langsam auf. "Wo war dieser Schatten genau?"

"Gleich auf der anderen Straßenseite, wenn du vom Pier rüberschaust. Du weißt doch wo ich wohne, dort steht doch kein anderes Haus uns in die alten Lagerschuppen wird um die Zeit mit Sicherheit niemand mehr gegangen sein. Aber das ... vergiss es einfach. Vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet."

"Rob - alles was hilft. Ich erkläre dich nicht für verrückt."

"Das ist eine alte legende von den Cree, eine wirklich uralte - wenn früher Menschen aus dem Stamm verschwunden sind, wurden dafür oft bestimmte Wesenheiten verantwortlich gemacht - Windikouk. Geister verstorbener die nicht zur Ruhe gekommen sind und jetzt die Menschen auf dieser Erde tyrannisieren, sie in Angst versetzen und eben auch ... töten. Und ich hätte schwören das dieser Schatten aussah wie die Wandteppiche, die mir meine Großeltern gezeigt haben wenn sie diese Gruselgeschichten erzählt haben."

Sie hätte nun fragen können, wie sehr er daran glaubte, aber ... sie wusste es ja schließlich. Robert glaubte nicht nur an diese Legenden, er lebte sie und wenn sie seit diesem verdammten Virus etwas realisiert hatte, dann dass nichts sicher war, nicht einmal die eigenen Fähigkeiten. "Kannst du mir etwas darüber zukommen lassen?"

"Klar kann ich - es gibt dafür auch einen Namen der wesentlich bekannter ist : Wendigos."

"Das habe ich schon irgendwann einmal gehört. Hatten sie das nicht in dieser Serie, die damals lief? So ewig lange?"

"Ich kann mich nicht daran erinnern das bei den Simpson jemals eine Wendigo vorkam."

"Ich meinte Supernatural."

"Sagt mir nichts, sorry." Wiegelte Robert ab und schüttelte den Kopf, ehe er beide Tassen wieder in seinem Rucksack verstaute und die Thermoskanne zuschraubte. "Du glaubst aber nicht wirklich an diese Geschichten, oder? Meine Ahnen in allen Ehren - sie hatten ja mit vielem Recht, aber Geister, Mythen und Monster - damit hatten sie genauso viel Recht wie jede andere Kultur vor Ihnen." Er stand schließlich auf und streckte sich kurze, blinzelte der Sonne, die langsam hinter den Wolken zum vorschein kam entgegen.

"Ganz im Ernst, ich gehe jeder Fährte nach, so lange sie mich ans Ziel führt. Bevorzugt hätte ich lieber einen Menschen, den ich persönlich dafür verantwortlich machen kann."

"Also wenn du irgendwie Hilfe brauchst" meinte er schmunzelnd "du hast meine Nummer. Und sollte es keine Wendigo sondern ein Geist sein, würde ich den guten alten Staubsauger empfehlen."

"Klar - einen mit Beutel, was?"

"Da sind sie ja endlich!" Callum legte den Stapel voller Akten fort und schüttelte nur den Kopf, als er sah wie seine Kollegin das Revier betrat und hob den Kopf. "Hatten wohl eine lange Mittagspause was? Ich hab währenddessen gearbeitet!" er deutete auf das Verhörzimmer, welches man von hier aus sehen konnte und dessen verspiegelte Scheibe einen Blick auf einen jungen Mann im inneren offenbarte. "Ich habe den Stalker von Crawford dingfest gemacht. Wir können in nun befragen. Ich hab auch Madison kommen lassen. Wenn wir sie ihm vorführen wird er sich womöglich durch eine unbedachte Äußerung verraten!"

"Fleißig und ausgeschlafen, wie ich sehe", grüßte Charlie ihn und betonte nicht noch einmal, wie besoffen er vorhin gewesen war. Wenn er das Spielchen spielen wollte, dann gerne. "Wo haben Sie Madison hingesteckt?"